Wirtschaft boomt, Gesellschaft kaputt
Liebe Leserinnen und Leser!
Klar, der Titel hat mich aufmerksam gemacht. Glücklicherweise ist die Botschaft des Buches, der Gehalt deutlich positiver, als der Titel es vermuten lässt. Wie uns Teilzeitbürgern (schließlich geben wir im Arbeitsleben ja zumeist einen guten Teil unserer demokratischen Rechte ab) immer wieder gerne schmackhaft gemacht wird, geht es uns doch richtig gut. In den Erstweltländern lebt es sich immer besser, der Wohlstand schreitet voran, die Lebenserwartung steigt ständig weiter und wir können konsumieren bis zu Umfallen. Aber glauben wir das? Oder: Wer glaubt das? Ich nicht. Ihr hoffentlich auch nicht. Die Einkommensschere spreizt sich immer weiter, gerade auch in Deutschland, wie jüngst der Spiegel sogar in seinem Titelartikel deutlich machte. Sprich: Die Reichen werden immer reicher, die Armen immer ärmer und die Mittelschicht dazwischen ist auch langsam wieder beim Abstieg und darf sich Sorgen über eine mögliche Altersarmut machen. Außerdem könnte man den Eindruck bekommen, dass das Sozialgefüge zunehmend brüchiger wird. Aber das sind halt die Folgen, die Kosten der Globalisierung und unseres Strebens, die Wettbewerbsfähigkeit aufrechtzuerhalten. Wirklich? Weit gefehlt, belegen Löpfe und Vontobel. Und zeigen wirklich frische Perspektiven und Alternativen auf.
Philipp Löpfe wurde 2012 von der Zeitschrift „Schweizer Journalist“ zum Wirtschaftsjournalisten des Jahres gewählt. Werner Vontobel erhielt als Wirtschaftsjournalist 2013 den „Greulich-Kulturpreis“. Gute Aussichten also, auf ein außergewöhnlich gut recherchiertes und geschriebenes Buch, das einen erfrischenden Perspektivwechsel bietet. So ist es dann auch. Der Einstieg in den Abstieg der dunklen Seite unserer aktuellen Wirtschaft wird zum Leuchtstern, der einen unaufgeregt durchs Buch führt: Die Globalisierung, die dazu führt, dass wir ständig über Wettbewerbsfähigkeit blubbern und deswegen versuchen, „die anderen zu Verlierern zu machen, bevor man selbst unter die Räder gerät“ (S. 8). Sie ist eigentlich gar nicht so allmächtig, wie wir uns selbst einreden und wie es vor allem multinationale Konzerne gerne hätten. Nein, selbst heute befriedigen wir „…zwischen 80 und 90 Prozent unserer Bedürfnisse durch lokale und nationale Arbeit…“ (a.a.O.), was die Autoren glaubwürdig im Laufe des Buches belegen. Das Problem liegt unter anderem darin, dass wir die lokalen Leistungen nicht ausreichend wahrnehmen. Sie verschwinden vor dem Trubel und Marktgeschrei der Konzerne rund um die Globalisierung.
Die beiden Autoren stellen recht zügig dar, wer für dieses Geschrei unter anderem verantwortlich ist. Da wäre beispielsweise die Arbeitsgruppe Beffa-Cromme, im Frühjahr 2013 von Francois Hollands und Angela Merkel beauftragt. Sie sollte einen Bericht zur Wettbewerbsfähigkeit Europas erarbeiten. Letztendlich lautete eine der Empfehlungen hinsichtlich der Wettbewerbspolitik, die EU-Kommission solle Fusionen schneller und leichter genehmigen und die „globale Konkurrenz höher gewichten.“ (S. 46). Wie überraschend, das vom Ex-Chef des französischen Baustoffkonzerns Saint-Gobain (Jean-Louis Beffa) und dem Aufsichtsratsvorsitzenden eines der größten deutschen Konzerne (Gerhard Cromme bei Siemens) zu hören. Die darin enthaltene Gleichung kapiert auch jeder Ochsenfrosch: Der Wettbewerbsdruck steigt, die armen Konzerne müssen vor Ort mal wieder Arbeitsplätze abbauen oder ganz einstampfen und dafür kostengünstiger in Fernost oder demnächst Afrika einkaufen. Ein dafür nettes Instrument ist natürlich eine Fusion, in deren Folge auch kräftig vom Stahlbesen Gebrauch gemacht werden kann. Und weil es herausfordernder ist, einen noch größeren Konzern zu steuern, müssen im nächsten Jahr die Vorstandsgehälter erhöht werden (so meine Schlussfolgerung).
Drei zentrale Vorwürfe erheben die beiden Schweizer Journalisten:
- Multinationale Konzerne vesagen darin, echte Bedürfnisse zu identifizieren. Stattdessen investieren sie erhebliche Summen in das Marketing, um künstliche Bedürfnisse zu wecken (vgl. zur Konzernkritik insgesamt auch →“Corporation 2020„)
- Dank ihrer Marktmacht erwirtschaften Multis hohe Gewinne, die sie zunehmend ungleich verteilen.
- Durch die „Totalisierung der Erwerbswirtschaft“ (Norbert Blüm), zum Beispiel in Form der rigorosen Forderung nach billigen und maximal flexibel einsetzbaren Arbeitskräften, zersetzen Multis das soziale Gefüge (ein ausführliches Beispiel lieferte Jan Bredack mit seiner Geschichte bei Mercedes →“Vegan für alle„).
Das lokale Produktion und Selbstversorgung keineswegs blauäugige Illusionen sind, machen Löpfe und Vontobel an der technologischen Entwicklung klar. Es gibt schon heute einige neue Technologien, die ein starkes Gegengewicht zur Globalisierung bieten: Alternative Energiegewinnung (Solar, Wind, Erdwärme…), Urban Farming, Solare Chemie und vor allem 3D-Drucker. Alle diese Innovationen ermöglichen uns eine zunehmend lokale Wirtschaft. Dazu gesellt sich noch die aufblühende Sharing-Economy, so dass in vielen Regionen zukünftig weniger Produkte benötigt werden, als bisher. Es ist nunmal deutlich sinnvoller, sich eine Bohrmaschine zu leihen oder mit mehreren Leuten gemeinsam zu kaufen, als das jeder Haushalt sein eigenes Exemplar hat.
Im weiteren Verlauf erläutern die Autoren wichtige Zusammenhänge, die zur heutigen Situation geführt haben. Hier nur ein paar kurze Beispiele: Da wäre zunächst der fatale Fokus auf bezahlte Arbeit. Alles was darüber hinaus geleistet wird, fällt mehr oder weniger hinten runter und wird stiefmütterlich behandelt. Dabei ist zum Beispiel die familiäre Arbeit und das Ehrenamt in all seinen Formen ein fundamentaler Klebstoff für Gesellschaften. Dies kollidiert jedoch mit den Bedürfnissen von Unternehmen, die ihrerseits ein Interesse daran haben, dass die Bürger weniger für staatliche Leistungen ausgeben, um mehr Geld für den Konsum ihrer Produkte zur Verfügung zu haben (was in besonderem Maße für global operierende Konzerne gilt). Auch damit zersetzen sie die Gemeinschaft der Familien und Bürger. Dies wird zusätzlich durch die aktuelle Politik verstärkt, die das Rat Race um die angebliche „Wettbewerbsfähigkeit“ unterstützt, indem beispielsweise Firmensitze im Niedriglohnsektor subventioniert werden. Als aktuelles Beispiel bringen Löpfe und Vontobel den Bau eines neuen Verteilzentrums von Zalando in Erfurt.
Glücklicherweise gibt es aber eben schon längst eine positive Gegenbewegung, auf die die Autoren immer wieder hinweisen und entsprechende Beispiel bringen. Die englische Kleinstadt Todmorden übt sich in einer zunehmend erfolgreichen Selbstversorgung und ist längst Vorbild für andere Städte geworden, wie Andernach am Rhein. Oder der Hedgefondsmanager Tom Steyer, dessen Frau unbedingt eine eigene Farm haben wollte, um zu beweisen, dass ökologisch nachhaltige Viehzucht möglich ist. Er ließ sich überzeugen, investierte und heute ist er selbst begeistert von dem, was möglich ist. Oder der deutsche Chemiker Hermann Fischer, der auf lokale Solarchemie setzt und in diesem Zusammenhang Alternativen aufzeigt.
Die Zukunft bietet zwei mögliche Entwicklungspfade, ein „Duell zweier Zukünfte“: Laut und unglaublich hip breitet sich zügig ein „Techno-Feudalismus“ aus. Er wird vor allem durch verschiedene Unternehmen und Kultfiguren wie Ray Kurzweil vorangetrieben. Google investiert in Hamburger aus synthetischem Fleisch oder in die Firma Calico, um endlich die „Krankheit“ Alter zu überwinden. Patri Friedman, Enkel des Hardcore-Liberalen Milton Friedman will eine Charter City in Honduras aufbauen, in der Einheimische in die Stadt ziehen können – um den Preis, ihre demokratischen Rechte aufzugeben. Oder all die neuen, kommenden Finanzelite-Space-Jünger (Elon Musk, Paul Allen von Microsoft, Jeff Bezos…), die unser Heil im Weltraum sehen und entsprechend in Raumschiffunternehmen investieren, beziehungsweise sie selber gründen (Space X, Space-Ship One, XCOR Aerospace). Prototypisch für diese Techno-Avantgarde ist Ray Kurzweil, der „Altmeister der künstlichen Intelligenz“, der davon überzeugt ist, dass wir dank der neuen Technologien die großen Aufgaben der Menschheit lösen werden. Das Heil kommt in diesem Fall also durch technische Innovationen. Von sozialem Wandel keine Rede. In dieser Zukunft wird es eine Techno-affine Elite geben, denen es gut geht – und den Rest der Menschheit, die ausgeschlossen werden, eben so, wie das heute teilweise schon der Fall ist.
Die andere Zukunft besteht in der Ausrichtung auf eine neue, lokale Wirtschaft. Es ist keineswegs ein „Zurück auf die Bäume“. Wie oben erwähnt, helfen auch hier neue Technologien, um vor Ort zukünftig Produkte zu erzeugen, die bislang nur über globale Konzerne zu erstehen waren. Aber diese andere Zukunft geht auch einher mit einer neuen Ausrichtung auf eine neue Wertesphäre. Es kann zukünftig nicht mehr die massive Ausrichtung aus Erwerbsarbeit, Fremdversorgung und technischen Fortschritt als Allheilmittel geben (vgl. dazu auch →“Befreiung vom Überfluss„). Erste Stimmen werden laut, dass Letzterer erheblich überschätzt wird. Sogar aus der Technoszene selbst. Löpfe und Vontobel zitieren Peter Thiel, den Gründer von PayPal, der ja auch in Facebook investierte. Sogar er hält die positiven Techno-Zukunftsaussichten für übertrieben.
Abschließend schlagen die beiden folgende Reformagenda vor:
- Das seit Jahrzehnten herrschende Überangebot auf dem Arbeitsmarkt muss wieder hergestellt werden. Und zwar dadurch, dass jeder nur soviel arbeitet und produziert, wie er zur eigenen Bedürfnisbefriedigung braucht. In Deutschland seien das im Mittel etwa fünf Stunden pro Tag. Amüsanterweise habe ich mit diesem ersten Punkt ein Problem. Denn dieser Vorschlag gründet auf der fragwürdigen Logik, das Arbeit nur zum Geldverdienen da ist. Was denn, wenn jemand einfach Freude an seiner Arbeit hat, oder sie gar als sinnvollen Beitrag zum Gemeinwohl sieht, weil er im Naturschutz arbeitet?
- Die Zumutbarkeitsregeln für Arbeitnehmer müssen gelockert werden. Es kann nicht sein, dass 3 Stunden dauernde Anfahrtswege in Kauf zu nehmen sind oder das jeder noch so unpassende Job angenommen werden muss. Umgekehrt sollte davon ausgegangen werden, dass es zu steigender nicht-monetärer Wertschöpfung kommt, wenn Menschen am Wohnort und in ihren Familien gut integriert sind.
- Es braucht einen Mindestlohn von 15 Euro. Wenn deutlich weniger gezahlt wird, muss die Gemeinschaft letztlich in Form staatlicher Zuschüsse und sozialer Hilfsprogramme die Differenz zahlen, damit die Geringverdiener erstens überlebensfähig werden, zweitens die Kosten für die Nutzung öffentlicher Dienste zahlen können und drittens wenigstens ab und an noch etwas konsumieren. Damit würde der Arbeitgeber seine Arbeitsplätze subventionieren lassen und gleichzeitig dafür sorgen, dass in der Region die Kaufkraft sinkt. Das ist äußerst plausibel, man muss nur mal kurz nachrechnen.
- Arbeit muss zukünftig endlich fair und menschlich werden. Das bedeutet unter anderem, dass wir dem natürlichen menschliche Autonomiestreben gerecht werden. Sprich: Mitarbeiter müssen mehr eingebunden werden in wichtige Entscheidungen, müssen mehr mitgestalten dürfen.
- Lokale Währungen sollten durch Staat und Gemeinden gefördert werden, indem beispielsweise ein Teil der Steuern in lokaler Währung geleistet werden kann. Denn Lokalwährungen kurbeln das lokale Geschäft an, das wiederum mehr Selbstversorgung bedeutet und damit eine erhebliche Reduktion komplexer, aufwändiger und ökologisch schädlicher Liefer- und Produktionsketten.
- Städte, Orte, Gemeinden sollten zukünftig so geplant und gebaut werden, dass Wohnen, Gewerbe und Kultur gut durchmischt sind und die wichtigsten Geschäfte etc. fußläufig erreichbar sind. Natürlich sollte auf den Grünflächen ausreichende Möglichkeiten für Urban Farming geboten werden.
Fazit: DAS Buch für alle, die der allgegenwärtigen Globalisierung und dem damit verbundenen Scheinzwang nach „Wettbewerbsfähigkeit“ etwas entgegenhalten wollen.
Herzliche Grüße
Andreas Zeuch
Löpfe, P.; Vontobel, W. (2014): Wirtschaft boomt, Gesellschaft kaputt. eine Abrechnung. orell füssli. Hardcover, 224 Seiten. € 19,95
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