Selbst Denken

Liebe Leserinnen und Leser!

Ich habe eine ungebührlich lange Weile gebraucht, um dieses Buch zu bemerken und zu lesen. Harald Welzer – ja schon mal gehört, sogar schon mal auf einer Bühne gemeinsam gestanden und tatsächlich wieder vergessen. Unsäglich, ich empfehle mich definitiv nicht als Vorbild. Zum Glück bin ich als Redner und Workshopleiter zu einer Veranstaltung für Bankvorstände im März 2015 eingeladen worden. Und wer gehört zu den weiteren Referenten? Genau. Also wollte ich wissen, mit wem ich da auf derselben Veranstaltung über Zukunftsgestaltung einen Beitrag leiste. Auf diesem Umweg bin ich bei seinem Bestseller „Selbst denken“ gelandet. Endlich. Das hätte sich definitiv schon früher gelohnt. Es freut mich, dass sich dieses Buch so gut verkauft. Denn das gibt Anlass zur Hoffnung, dass wir vielleicht doch eines Tages selbst denken und nicht jeden Marketingfurz gierig als neuesten Duft bis in den letzten Winkel unserer Lunge einsaugen.

Welzer 2012 - Selber denken

Das ich dieses Buch erst jetzt gelesen habe, ist wirklich erstaunlich. Denn es trifft den Kern dessen, was mir schon seit vielen Jahren ernsthaft Sorgen macht: Viele von uns haben das selbst denken aufgegeben – oder nie wirklich gelernt. Abhängig vom jeweiligen Umfeld möchte ich behaupten: Jeder von uns schaltet gerne mal den eigenen Verstand aus und wird zum Mitläufer, Mitesser (→“Tiere essen„) oder Mitfahrer. Mit den beiden Soziologen Habermas und Adorno gesprochen: Wir sind die Versprechen der Aufklärung schuldig geblieben. Das lateinische Sprichwort „Sapere aude!“ – Wage es, weise zu sein!, das in der Kant’schen Version „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ zum Leitspruch der Aufklärung wurde, haben wir bis heute nicht verwirklicht. Und das, obwohl wir heute wesentliche größere Chancen dazu haben als jemals zuvor in der Menschheitsgeschichte. Dabei ist es bitter nötig, dass wir unsere persönlichen Ressourcen des (selbst-)kritischen Denkens nutzen. Denn nur dann wird  eine menschliche Wirtschaft möglich.

Welzer beginnt den Weg zum selbst denken mit einer persönlichen Geschichte, so wie er gekonnt immer wieder zum Erzähler wird; wohlwissend, dass Geschichten Gefühle vermitteln und uns tiefer erreichen, als alle Zahlen, Daten und Fakten. Obendrein ist es noch eine herrlich unprätentiöse Geschichte, in der sich Welzer gleich ganz menschlich zeigt, ohne Bildungsdünkel: Er erinnert sich an seine Lektüre von Micky Maus Heften und an die dortigen MMK-Nachrichten, die eine Verheißung auf eine Zukunft boten, die „besser sein würde als die, die man grade hatte.“ Womit er bei einem der zentralen Punkte seines Buchs ist: Wie denken wir Zukunft? Als reine, recht stumpfe Verlängerung unserer Gegenwart? Ja, leider. Allein: So werden wir wohl kaum zu einer kreativen  Zukunftsgestaltung gelangen. Denn wir wissen nun mal nicht, was aus den heutigen Technologien und Möglichkeiten wird, die wir schon nutzen oder die wir gerade im Begriff sind, zu entwickeln.

Das wird an einer überraschenden Entwicklung deutlich, die uns heute nur noch größere Probleme beschert: Die Erfindung und Verbreitung von Autos. Denn nicht zuletzt war mit dem Wechsel von Pferden und Kutschen zu Autos die Hoffnung verbunden, die Probleme durch „Pferde-Mobilität“ endlich zu lösen. Schließlich wurde 1920 in den USA Hafer auf einem satten Viertel des Ackerlandes angebaut. Außerdem wurden die Straßen durch tausende Tonnen Pferdemist verschönert, die wiederum Fliegen anzogen, was im nächsten Schritt zur Ausbreitung von Krankheiten beitrug. Ach ja – und dann mussten noch jedes Jahr „10.000 bis 15.000 Pferdekadaver von den Straßen geräumt werden.“ Klar, dass das Automobil da zur neuen technischen Heilserwartung mutierte.

Schon dieses Beispiel zeigt, dass die Lösung unserer Probleme nicht in neuen, verbesserten Technologien liegen kann. Erstens wissen wir nicht, welche Pferdefüße die neue Technik mit sich bringt. Zweitens findet der Nutzen neuer Technologien immer noch im Rahmen der weiterhin gültigen kulturellen Rahmenbedingungen statt, die ihrerseits überhaupt erst zu der problematischen Situation geführt haben. Welzer spricht von der tiefen Industrialisierung und beschreibt damit das Phänomen, wie die Werte, Prämissen, Logik und Mechanismen der Industrialisierung unsere inneren emotionalen und kognitiven Welten passend zur Außenwelt geformt haben. Anders formuliert ist dies die totale Ökonomisierung der Welt im innen und außen.

Von der Politik, oder genauer: Den Berufspolitikern ist allerdings keine Lösung unserer Probleme zu erwarten. Diese Profession verliert sich in einer  phantasielosen Politik angeblicher „Alternativlosigkeit“ und schreckt damit insbesondere junge Menschen ab. Die sind aber keineswegs so desinteressiert und demotiviert, wie allenthalben behauptet wird, vorzugsweise von älteren Generationen, schließlich war ja früher alles besser. Von wegen. Verschiedene Umfrageergebnisse zeichnen ein ganz anderes Bild. Es gibt längst zahllose Engagierte, junge wie alte, die ihr Schicksal und das unserer Gesellschaft in die eigenen Hände genommen haben. Allerdings wird auch dort häufig noch Zukunft als fortgeführte Linie der Vergangenheit und Gegenwart entwickelt.

Für Welzer ist klar: Die Zukunft muss erstens von der Zukunft her gedacht und nicht aus einer gedanklichen Verlängerung der Gegenwart heraus entwickelt werden. Zweitens zählt dabei jeder Einzelne von uns, weil es keinen Masterplan der großen Transformation gibt. Welzer ruft auf, uns selbst endlich wieder ernst zu nehmen, was auch heißt, nicht den gesammelten Schwachsinn der Werbebranche für bare Münze zu nehmen und unser Seelenheil im entfesselten Konsumismus zu suchen. Denn der basiert zwingend auf Extraktion und Ausbeutung von Ressourcen, die nun mal endlich sind. Allerdings heißt selbst denken unbequem sein – aber nicht nur für andere, sondern vor allem zunächst gegen sich selbst. Folgerichtig bekommen seine LeserInnen einige Kapitel lang erst mal selbst einen auf die Mütze. Zu Recht. Allerdings macht Welzer seine Attacken auf die Leserschaft gut erträglich, weil er sich selbst immer wieder genauso, vielleicht sogar noch strenger hinterfragt.

Im letzten Drittel präsentiert Welzer eine Reihe von positiven Beispielen eigenständigen Denkens. Es sind Unternehmer wie Peter Kowalsky von bionade oder die GLS Bank; oder Stefan Schridde, Gründer und Macher von „Murks, nein Danke“; oder die revoltierenden Yes Men. Es ist ein buntes Kaleidoskop an Vorbildern eigenständigen Denkens, die Mut machen, endlich selbst damit anzufangen. Abschließend gibt’s noch kurz und bündig die 12 Regeln für erfolgreichen Widerstand. Die erste lautet: „Alles könnte anders sein.“

Fazit: Selbst denken betrifft JEDEN. Keine Ausnahme. Keine Entschuldigung. Wer ein Teil der großen, sich selbst organisierenden Transformation sein will, sollte bei sich anfangen und dieses Buch lesen – und umsetzen.

 

Herzliche Grüße

Andreas Zeuch

 

Welzer, H. (2012): Selbst denken. Eine Anleitung zum Widerstand. S. Fischer. Gebunden, 336 Seiten. € 19,99

4 Kommentare

Trackbacks & Pingbacks

  1. […] Scheidler schlägt dabei in dieselbe Kerbe wie Harald Welzer in seinen Büchern →”Selbst denken” und →”Transformationsdesign“: Es gibt keinen Masterplan. Es gibt nur einen […]

  2. […] Moderne führen können? Die beiden Autoren Bernd Sommer und Harald Welzer (→”Selbst denken“) erarbeiten eine vielschichtige und weitreichende Antwort auf diese Frage. So entstand ein […]

  3. […] ist es soweit: Nach dem letzten rundum verdienten Bestseller →”Selbst denken” von Harald Welzer liegt nun endlich sein neues Buch vor, gemeinsam mit Bernd Sommer […]

  4. […] All diese Beispiele sind ein weiterer Beleg dafür, dass Harald Welzer mit seinem Buch →”Selbst denken” richtig liegt: Es gibt keinen Masterplan zur großen Transformation unserer Gesellschaft, […]

Dein Kommentar

An Diskussion beteiligen?
Hinterlasse uns Deinen Kommentar!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert