Lean Startup
Liebe Leserinnen und Leser!
Vor kurzem erhielt ich von Heiko Bartlog den Buchtipp zu Lean Startup. Der Anfang haute mich nicht unbedingt aus den Socken, denn eine der zentralen Ideen des Buches, die Bauen – Testen – Lernen – Feedbackschleife erinnerte mich sehr an die TOTE-Schleife: Test – Operate – Test – Exit. Und Heiko musste dabei an den PDCA (Plan – Do – Check – Act) und DMAIC-Zyklus (Define – Measure – Analyse – Improve – Control) denken. Kurzum: Die so wichtige Lernschleife ist definitiv nichts Neues. Und um es gleich vorweg zu nehmen: Ich finde es schwach, dass die im Buch präsentierte Schleife erst am Ende des Buches und dann auch nur äußerst rudimentär in die Tradition der bereits vorhandenen Feedback Mechanismen eingebunden wird. Da entsteht viel zu sehr das Bild einer neuen Eigenleistung. Nichtsdestotrotz lohnt das Buch, denn es gibt einige Anregungen, die wertvoll für alle sind, die sich in irgendeiner Form mit dem Thema Innovation beschäftigten. Besonders deshalb, weil es kein theoretischen Reden über ist, sondern häufig Leid geprüfte Startup-Erfahrungen des Autors sind. Da stellt sich niemand auf den Sockel übermenschlicher Erfolge.
Das Buch ist in drei Teile gegliedert: Vision, Steuerung und Beschleunigung. Am Anfang steht – was auf angenehme Weise überraschend ist – eine ungewöhnliche Definition von Entrepreneuren und Startups: Eric Ries beschreibt die Überraschung während seiner Vorträge, wenn er immer wieder feststellt, dass nicht nur „echte“ Entrepreneure „echter“ Startups im Publikum sitzen, sondern auch Manager längst etablierter Unternehmen. So kommt er zu seinem Verständnis: Er spricht von Entrepreneuren unabhängig von der Größe, Branche und dem Entwicklungsstadium, in dem sich ein Unternehmen befindet. Logischerweise muss er dann auch den Begriff des Startups anders definieren, als gemeinhin üblich:
Ein Startup ist eine menschliche Institution, die ein neues Produkt oder eine neue Dienstleistung in einem Umfeld extremer Ungewissheit entwickelt.
Interessanterweise sind damit Startups, die normalerweise als solche gesehen werden, in dem Moment keine mehr, wo es nur darum geht, bereits bestehende Märkte, Produkte oder Dienstleistungen in einem neuen Unternehmen nachzubilden. Denn dann hängt, wie Ries völlig zu Recht feststellt, der Erfolg nur noch an der Umsetzung und Implementierung der verschiedenen Variablen wie Produkt/Dienstleistung, Geschäftsmodell, Pricing etc. Das Ganze ist dann relativ gut vorhersehbar, hat nichts mehr mit extremer Ungewissheit zu tun.
Mindestens genauso wichtig ist seine Sicht, dass Startups, egal ob im herkömmlichen oder im Riesschen Sinne, wesentlich mehr sind, als neue Produktideen, technologische Durchbrüche oder einfach nur großartige Ideen. Es sind „zutiefst von Menschen geprägte Organisation(en).“ Ebenso weitreichend ist das Verständnis des Produktbegriffs. Denn der Autor sieht nicht nur das eigentliche Produkt als solches, sondern auch alle Interaktionen, die die (zukünftigen) Kunden mit den (neuen) Unternehmen machen. Das steht in engem Zusammenhang mit der eingangs erwähnten Feedbackschleife Bauen – Testen – Lernen.
Diese anfängliche grobe Skizze verfeinert Ries, indem er in einem nächsten Schritt das Thema Lernen genauer unter die Lupe nimmt. Einerseits ist klar, dass in einem Startup viel gelernt werden muss. Eine wichtige Frage ist nur: Was und Wann? Die normale Vorgehensweise setzt einen relativ langen Planungsprozess voraus, der dann abgearbeitet wird. Häufig geht das Startup dabei auf Stealthmodus, entwickelt erst mal sein Produkt, dass natürlich auch noch hohen Qualitätsanforderungen gerecht werden soll. Selbstredend lernen dabei die Mitarbeiter des Startups schon eine Menge. Aber was bringt all das Lernen, wenn am Ende, sobald das Produkt endlich auf den Markt kommt, die Kunden das Produkt zumindest so, wie es angeboten wird, gar nicht wollen? Dann wird es nur zu verständlich, dass Lernen bei den Investoren nicht gerade besonders positiv gesehen wird. Deshalb geht es darum, erstens möglichst schnell ein Minimal funktionierendes Produkt (MFP) zu veröffentlichen, und es zweitens in der Bauen – Testen – Lernen Feedbackschleife weiter an die Kundenbedürfnisse anzupassen und dann die Qualität zu verbessern. Ries erweitert damit den Lernbegriff um die Validierung über die Interaktionen mit den Kunden. Das bedeutet, „das ein Team wichtige Wahrheiten über die gegenwärtigen und zukünftigen Geschäftsaussichten entdeckt hat.“ Und zwar auf empirischem Wege, praktisch in der Auseinandersetzung mit echten Kunden gewonnen.
Die Steuerung des Startups ist für seinen Erfolg genauso wichtig, wie die anfängliche Vision und Produktidee. Ries verdeutlicht, wie sinnlos viele der üblichen Kennziffern zur Steuerung sind und entlarvt ihre unreflektierte Nutzung als „Erfolgstheater“, in dem er früher selbst mitgespielt hat, als „Fassendmetrik“, die er früher selbst betrieben hat. Alternativ stellt er eine Innovationsbilanz als Steuerungsinstrument vor und erklärt deren Nutzung. Denn „traditionelle Bilanzierungsverfahren beurteilen neue Projekte nach den gleichen Maßstäben, die sie auch bei etablierten Firmen zugrunde legen, doch diese Indikatoren lassen keine verlässlichen Prognosen über die tatsächlichen Zukunftsaussichten des Startups zu.“
Mit der Beschleunigung des Wachstums bestreitet Ries den dritten Teil seines Buchs. Zentral dafür ist sein Plädoyer für kleine Batchgrößen. Will heißen: Immer dann, wenn prozessorientiertes Arbeiten nötig ist, sind Single- oder One-Piece-Flow Ansätze (mitarbeitergebundener Arbeitsfluss) effektiver und effizienter als große Losgrößen. Ries verdeutlicht das leicht nachvollziehbar an der Aufgabe, 100 Briefe zu versenden. Normalerweise würden wir dazu neigen, erst alle Briefe zu falten, sie dann einzutüten, zu verkleben und schließlich zu frankieren. Was aber, wenn sich die Umschläge nicht richtig zukleben lassen? Dann müssen wir alle Briefe wieder aus den Umschlägen rausholen, neue Umschläge besorgen und wieder von vorne beginnen. „Bei kleinen Losgrößen merken wir das sofort und können uns den zweiten Durchlauf sparen.“ Das dieses Vorgehen letztlich schneller ist und gleichzeitig eine höhere Qualität ermöglicht, liegt daran, dass es weniger auf die Geschwindigkeit der einzelnen Personen ankommt, als vielmehr auf die des Gesamtsystems. Und wer betreibt dieses Prinzip bis zur Perfektion und hat damit beeindruckenden Erfolg? Toyota.
Bei den verschiedenen Bausteinen des Lean-Startup Konzepts gibt es allerdings ein paar offene Fragen und Schwierigkeiten. Schnell wird deutlich, dass Ries aus dem wesentlich risikofreudigeren Amerikanischen Startup Umfeld kommt. In Deutschland beginnen die Schwierigkeiten mit dem Minimal funktionierenden Produkt: Denn viele Investoren inklusive der gerade ziemlich hippen Crowdfunding Plattformen bieten Ihre Investitionen erst an, wenn schon ein Prototyp oder gar die Betaphase einer Software erreicht ist. Das heißt: Es wird schon wesentlich mehr vorausgesetzt, der Einstieg in die Produktentwicklung geschieht zu einem Zeitpunkt, an dem längst wesentliche Schritte vollzogen wurden. (Das erlebe ich gerade selbst an Leib und Seele…).
Jedes Startup muss natürlich Kurskorrekturen vornehmen, wenn sein Produkt von den Kunden nicht ausreichend angenommen wird. Soweit so gut. Das dies aber dazu führen kann, dass Menschen, die an die Herstellung des ursprünglichen Produkts sinngekoppelt waren, sich durchaus wieder entkoppeln können – sprich: den Sinn in Ihrer Arbeit nicht mehr sehen, dass hat Ries nicht im geringsten reflektiert. Anders gesagt: die Kurskorrekturen können in die Beliebigkeit führen. Ries bringt selbst ein tolles Beispiel: Groupon wollte ursprünglich eine Aktivismus Plattform sein – aber das funktionierte nicht. Wohin das geführt hat, wissen wir. Obendrein zeigt die Geschichte, wie sinnentleert schnelles Wachstum häufig ist (dazu weiter unten noch mehr). Diese Problematik bedarf zumindest einer kritischen Bemerkung. Denn obendrein gilt ja auch noch das Bonmot: „Hätte Ford seine Kunden gefragt, hätte er schnellere Kutschen gebaut.“ Das zu den Kurskorrekturen.
Da Ries zu Beginn fundamental betont, dass jedes Startup eine zutiefst von Menschen geprägte Organisation sei, verwundert sein schwammiger Umgang mit unternehmerischer Entscheidungsfindung. Erst stellt er fest, dass die ersten Strategien von „Vermutungen oder Intuition geleitet“ seien, und dass dies auch gut sei. Später erklärt er weiterhin, dass Intuition nicht aus der Entrpreneurship-Praxis auszuklammern sei, noch das dies wünschenswert wäre. Kurz vor Schluss will er dann aber, dass Fakten zur Entscheidungsgrundlage werden, um Projekten grünes Licht zu geben. Es ist schon erstaunlich, dass Ries tatsächlich davon ausgeht, dass diese Fakten immer in eindeutiger Weise zur Verfügung stehen. Offensichtlich übersieht er, dass Fakten widersprüchlich, unverständlich oder nicht vertrauenswürdig sein können, um nur drei von fünf Möglichkeiten zu nennen, warum eine faktenbasierte Entscheidung unmöglich sein kann (das habe ich mit dem Fünfeck des Nichtwissens in meinem Buch Feel it! ausführlich untersucht und dargestellt).
Last not least: Am meisten stört mich das vollkommen unhinterfragte Wachstumsparadigma. Ries verneigt sich vor dem ungeheuren Wachstum von Groupon. Wieso muss ein Unternehmen ständig weiterwachsen? Wieso muss dieses Wachstum auch noch beschleunigt werden? Etwa weil es sonst seine Kredite und deren Verzinsung nicht bedienen kann? Jegliche damit verbundene Problematik ist bei Ries nicht existent. Wenn alle ständig wachsen würden, am besten noch exponentiell beschleunigt, würden wir noch viel schneller einen Kollaps verursachen, als wir dies ohnehin schon tun. Ein begrenztes System kann nicht unbegrenzt wachsen.
Fazit: Lean Startup lohnt sich für Unternehmensgründer genauso, wie für alle diejenigen, die in bereits etablierten Unternehmen neue Produkte und Geschäftsmodelle erfinden, entwickeln und realisieren wollen. Es gibt einige Anregungen für neue innere Haltungen und ein Paket nützlicher Instrumente und Methoden. Besonders überzeugend ist dabei die durchweg offene Darstellung der Erfolge und Misserfolge, die Ries mit seinem eigenen Unternehmen IMVU erlebt hat.
Herzliche Grüße
Andreas Zeuch
Ries, E. (2012): Lean Startup: Schnell, risikolos und erfolgreich Unternehmen gründen. Redline. Paperback, 272 Seiten. 19,99€
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