Kollektive Intelligenz

Liebe Leserin, lieber Leser!

Was haben die → Gemeinwohl-Ökonomie und andere Konzepte wie sinnvoll · wirtschaften miteinander gemeinsam? Einiges, aber eines ganz besonders: Die Demokratisierung von Entscheidungsprozessen. Die Reise geht weg vom Helden- oder Tyrannentum einiger Auserwählter, die irgendwann auf der Karriereleiter ganz oben angekommen sind und aus dem größten Büro des Unternehmens heraus, weit weg von den Mitarbeitern, Kunden, B2B-Partnern und anderen Stakeholdern, entscheiden. Es geht viel mehr hin zu gemeinsamen Entscheidungen, die alle Freiwilligen zusammen getroffen haben und die deshalb von wesentlich mehr Menschen intrinsisch motiviert getragen werden.
Und genau da kommt ein seit Jahren häufig benutzter Begriff ins Spiel: „Kollektive Intelligenz“. Was ist das eigentlich? Funktioniert das? Und vor allem: Wie konkret können Unternehmen und Organisationen die „Weisheit der Vielen“ nutzbar machen? Darüber gibt der hier vorgestellte Herausgeberband differenziert Auskunft.

Das Buch ist zweigeteilt: Im ersten Teil werden von fünf AutorInnen in vier Beiträgen verschiedene „Sichtweisen zu kollektiver Intelligenz“ präsentiert, analysiert und diskutiert. Im zweiten Teil geht es dann um die „Kollektive Intelligenz in der Anwendung“.
Relativ zu Beginn bezieht sich Andreas Aulinger im ersten Teil auf eine Definition kollektiver Intelligenz des französischen Philosophen Pierre Lévy: „Es ist eine Inteligenz, die überall verteilt ist, sich ununterbrochen ihren Wert erschafft, in Echtzeit koordiniert wird und Kompetenzen effektiv mobilisieren kann.“ (Levy, P.: Die Kollektive Intelligenz. S. 29) Gleich danach legt Aulinger die Grundlagen für die Nutzung kollektiver Intelligenz, indem er die vier Bedingungen für die Entstehung kollektiver Intelligenz auflistet, so wie sie der amerikanische Wissenschaftsjounalist James Surowiecki in seinem hervorragenden Band „Die Weisheit der Vielen“ herausgearbeitet hat:

  1. Meinungsvielfalt: Die Meinungen der Akteure sind vielfältig und die Gelegenheiten werden aus unterschiedlichen Standpunkten beurteilt.
  2. Unabhängigkeit: Die Aussagen werden ohne gegenseitige Beeinflussung der Beteiligten getroffen.
  3. Dezentralisierung: Von den einzelnen Beteiligten wird jeweils sehr spezifisches Wissen eingebracht.
  4. Aggregation: Ein Mechanismus bündelt die inividuellen Urteile.“ (Aulinger & Pfeiffer, S. 39, kursiv im Original)
Im Verlaufe seines einleitenden Artikels kommt Aulinger zu dem Ergebnis, dass kollektive Intelligenz dann vorliegt, wenn erstens eine Gruppe die Kompetenz aufweist, „Herausforderungen durch die gemeinsame oder inividuelle Verarbeitung von Information“ (S. 53) zu bewältigen. Zweitens muss es diese Kompetenz der Gruppe erlauben, „zu besseren Ergebnissen zu gelangen, als es mit herkömmlichen Verfahren oder durch einzelne Gruppenmitglieder möglich ist.“ (a.a.O.) Das eine solche Emergenz vorliegen muss, also das die Summe der Teile mehr, bzw. zutreffendere Ergebnisse liefert als die Einzelteile, ist dann auch ein Common Sense, der sich durch alle Beiträge zieht.
Grundlegend wichtig ist in dem ersten Teil zudem die Auseinandersetzung mit der Frage, ob sich die Gruppenmitglieder bewusst an der Meinungsbildung beteiligen („Interaktion“) oder ob dies nicht der Fall ist („Keine Interaktion“), so wie zum Beispiel bei der Auswertung durch Data Mining in Protokollen von Suchmaschinenanfragen wie Google. Gerade Letzteres kann zu wichtigen dem Gemeinwohl dienlichen Prognosen führen, wie mit dem Projekt GoogleFlu: Dort wurden zumindest in Amerika deutlich schnellere Prognosen erreicht, als bei den amtlichen Meldezahlen wahrscheinlicher Grippeerkrankungen.
Wie aber kann das recht abstrakte Phänomen kollektiver Intelligenz in Organisationen genutzt werden? Welche Beispiele gibt es? Welche Erfolge und Misserfolge? Reichhaltige Antworten gibt der zweite Teil: Grundsätzlich lassen sich drei verschiedene Anwendungsbereiche unterscheiden: PrognosenMeinungs- und Trendforschung und Kommunikation im Bereich von Veränderungs- und Strategieprozessen sowie für Mitarbeiterzufriedenheitsanalysen. Der bislang größte Einsatzbereich sogenannter Prognosemärkte (dazu gleich mehr) waren Wahlen, Sportevents, die Vorhersage von Kinofilm-Erfolgen oder sogar von Pegelständen in australischen Staudämmen (!). In diesen Bereichen konnten zumeist wesentlich genauere Vorhersagen erreicht werden, als durch Experten.
Prognose- oder Entscheidungsmärkte dienen in der praktischen Anwendung zur Operationalisierung kollektiver Intelligenz. Der diesen Werkzeugen zugrunde liegende Mechanismus ist immer der gleiche: Eine mehr oder minder große, geschlossene oder offene Gruppe von Menschen wettet wie in Akienmärkten oder Wettbüros auf ein bestimmtes Zukunftsszenario. Das kann ein bestimmter Umsatz von Produkt X sein, ein Wahlausgang, das Ergebnis einer Fussballmeisterschaft und dergleichen mehr. Realisiert werden die Wetten durch den (Ver-)Kauf auf zukünftige Ereignisoptionen (z.B. „Deutschland wird Vizeweltmeister“). „Je mehr ein zukünftiger Ereignisausgang nachgefragt wird, umso teurer wird dieser. Ein höherer Preis ist gleichzeitig ein Indiz für eine höhere Wahrscheinlichkeit, dass dieser Ereignisausgang eintritt.“ (S. 161). Damit die Gruppenmitglieder bei Laune gehalten werden, um eine möglichst große Handels- oder Wettaktivität zu gewährleisten, die wiederum ein kritischer Erfolgsfaktor dieser Tools sind, wird ein Nullsummen-Gewinnspiel integriert: Die TeilnehmerInnen, die mit Ihrer Wette dem Endergebnis am nächsten gekommen sind, gewinnen monetäre Preise oder Reputation.
Mit diesem Mechanismus konnten, wie das auch schon der bereits erwähnte James Surowiecki in seinem Buch „Die Weisheit der Vielen“ überzeugend gezeigt hat, Prognosen genauer und Entscheidungen erfolgreicher getroffen werden. Nun stellt sich die Frage, warum diese Instrumente nicht längst allgemeiner Usus in Unternehmen sind? Die Antwort ist einfach: Die Unternehmenslenker und Experten sehen sich in Ihrem Status und Ihrer Rolle und damit Ihrer Legitimation der Alleinentscheidung bedroht. Einmal mehr behindert irrationales Machtstreben den größeren Erfolg der gesamten Unternehmung. Es gilt also zukünftig eine entsprechende Kulturänderung in den Organisationen anzustoßen und umzusetzen.
 
Fazit: Wer komplexe Entscheidungen in Zukunft in seinem Unternehmen anders gestalten will als bisher, um beispielsweise Einsparpotential durch genauere Prognosen zu realisieren, sollte sich mit diesem Buch beschäftigen. Der Lohn ist ein guter Überblick über das Phänomen kollektiver Intelligenz sowie die Funktion und Zuverlässigkeit von Prognose- und Entscheidungsmärkten.
Und wer darüber hinaus komplexe Entscheidungen zur Einbindung der Mitarbeiter nutzen möchte, oder umgekehrt Entscheidungen demokratisieren möchte, dem lege ich dieses Buch ebenfalls ans Herz.

Herzliche Grüße
Andreas Zeuch

Aulinger, A.; Pfeiffer, M. (Hrsg.) (2009): Kollektive Intelligenz. Methoden, Erfahrungen und Perspektiven. Steinbeis-Edition. Gebunden, 220 Seiten. 24,90 €

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