Jenseits der Ökonomie
Liebe Leserin, lieber Leser!
Mit dieser Buchbesprechung habe ich mich entschieden, ein 14 Jahre altes Buch hervorzukramen und es hier vorzustellen. Warum hole ich solche alten Kamellen aus dem Regal? Und dann auch noch welche, die es nur noch antiquarisch zu erstehen gibt? Ganz Einfach: Erstens hat der Autor, Arie de Geus, Ex-Shell Manager, mit dem Buch etwas getan, was bis heute Wellen schlägt, auch in meinem Buch „Feel it!“. Zweitens geht es mir schon länger auf den Keks, dass wir in unserer schnell lebigen Zeit immer nur das Neueste Produkt in den Fokus rücken (Stichwort iPhone) und Altes aber Bewährtes verramschen, verdrängen und vergessen. Ein ebensowenig intelligentes wie nachhaltiges Verhalten. Also werde ich fortan nicht nur die neuesten, druckfrischen Bücher empfehlen, sonder auch ältere Werke. Jetzt aber zu Arie de Geus – und was er so Besonderes mit diesem Buch geleistet hat:
Er gab für Shell eine Studie zur Lebenserwartung von Unternehmen in Auftrag und untersuchte dann, welche Bedingungen die Lebenserwartung erhöhen oder senken. Somit war er einer der ersten Manager, der Unternehmen als lebende Systeme verstanden hat. Seine Ergebnisse werden bis heute immer wieder in weiteren Büchern, Artikeln und auf Websites zitiert. Und tatsächlich muss man schon einigermaßen gründlich recherchieren, wenn man Daten über die Lebenserwartung von Unternehmen finden will. Ganz besonders dann, wenn diese Daten auch noch mit der Frage verbunden werden, was ein Unternehmen lange leben lässt und was zu einem frühen, vorschnellen Tod führt. Eigentlich höchst erstaunlich, oder? Denn was läge näher, als genau diesen Zusammenhang möglichst gründlich zu untersuchen, um davon zu lernen und für andere (die eigene Firma?) zu profitieren?
de Geus erarbeitete mit seinem Team vier Schlüsselfaktoren für ein langes Unternehmensleben:
- Eine sensible Reaktion auf die Umwelt des Unternehmens. Ich würde das mit Flexibilität und Anpassung übersetzen.
- Fester Zusammenhalt und ein ausgeprägtes Identitätsgefühl bei den Angestellten und zum Teil auch den B2B Partnern.
- Toleranz. Diese Begriff entwickelte de Geus erst im Laufe der Zeit, zuvor sprach er und sein Team von Dezentralisierung. Toleranz meint: Außenseiter, Experimente und exzentrische Ideen dulden, ja vielleicht sogar fördern.
- Eine vorsichtige, konservative Finanzierung. „Sie waren sparsam und setzten ihr Kapital nicht leichtfertig aufs Spiel.“ (S. 25)
Heute scheint es selbstverständlich zu sein, dass sich Unternehmen anpassen müssen. Das pervertierte Heraklitsche Bonmot vom Wandel als dem einzig Beständigen treibt unsensible und dumme Geschäftsführer und Vorstände immer wieder aufs Neue an, das eigene Unternehmen umzugestalten, so als wäre es eine Maschine, an der man völlig unabhängig von sich selbst ständig ungestraft Modifikationen vornehmen könne. Beraterhorden werden durchs Haus gejagt und sorgen vor allem für ein Ergebnis: Den Mitarbeitern quillt der Change zu den Ohren hinaus. Und so ist es nicht verwunderlich, dass mindestens die Hälfte aller Veränderungsprozesse scheitern, eher sogar zwei Drittel. Und es erstaunt nicht im Geringsten, wie schon in einer anderen Rezension erwähnt, das Change krank macht – nicht metaphorisch, sondern wortwörtlich. Aber viele der Change-Geilen und -Gurus übersehen dabei das Zentrale, was de Geus herausgearbeitet hat:
„Wenn das Überleben bedroht ist, wird die Gemeinschaft immer zunächst die Vermögenswerte aufgeben und versuchen den Inhalt oder Charakter ihrer ökonomischen Aktivität zu verändern, bevor sie Menschen aufgibt.“ (S. 310, kursiv von mir)
Neben zahlreichen Reflexionen und Dekonstruktionen bestehender Management-Glaubenssätze und der Entwicklung wichtiger Aspekte wie dem Lernen, bietet de Geus auch inspirierende Beispiele aus seiner eigenen Praxis. Eines nenne ich die 90/10 Regel: Als de Geus Shell in Brasilien leitete, musste er gegen den dort kulturell verankerten Paternalismus angehen, um seine Ideen der dezentralisierten Entscheidungsbefugnisse umzusetzen. Dazu setzte de Geus und sein Team zunächst fest, dass nur 10% der anstehenden Entscheidungen in die Zentrale weitergeschoben werden dürfen. Da das alleine längst nicht reichte, um die Filialen zu eigenen Entscheidungen anzuregen, änderte er die Ressourcenverteilungen für Entscheidungsprozesse:
„Dann sorgten wir dafür, dass die Zentrale nicht die Ressourcen für weitere Entscheidungen hatte, damit jeder, der mehr als ein Zehntel seiner Probleme nach oben abgab, unverhältnismäßig lange auf eine Lösung warten musste. Außerdem stellten wir den Unternehmen vor Ort so viele Ressourcen zur Verfügung, dass sie mit 90% ihrer Probleme selbst fertig werden konnten. Wir versetzten die Mitarbeiter aus der Zentrale in Rio wieder zurück in die im Land verstreuten Niederlassungen und verbanden diesen Umzug mit Beförderungen Gehaltserhöhungen. … Vorher hatten Beförderungen fast immer bedeutete, dass die Mitarbeiter in die Zentrale umzogen.“ (S. 302). Das zeigte auch ökonomischen Erfolg: „Nach einem Jahr war der Gewinn von Shell Brasilien umd 60% gestiegen und hielt sich auf diesem höheren Niveau.“ (a.a.O.) Außerdem sorgte diese Selbstorganisation dafür, dass Shell während der folgenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten Brasiliens ausgesprochen krisenrobust war.
Ganz und gar nicht überzeugt hat mich indes, dass die Auseinandersetzung mit der Zukunft nicht delegierbar sei und das genau das der Grund für die hohen Gehälter des Top-Managements wäre. Beides halte ich bei allem Respekt vor de Geus für Blödsinn. Zukunftsprognosen oder -szenarien sind mit die komplexesten Aufgaben, die es gibt und somit eignen sie sich nachweislich gut, um möglichst viele unterschiedliche Menschen mit ins Boot zu holen. Nicht umsonst gibt es bereits diverse Vorhersagemärkte, in denen eben nicht die gesalbten Top-Manager alleine oder ausgelagert an Dienstleister reichlich beschränkte (wortwörtlich!) Zukunftsbilder entwerfen, weil weniger Gehirne nun mal weniger Perspektiven einnehmen und Informationen verarbeiten können, als wesentlich mehr Gehirne. Außerdem hat die bis zum Anschlag irrationale Bezahlung des Top-Managements keinerlei Bezug mehr zu irgendeiner Tätigkeit oder Verantwortung, sondern ist eine reine Machtfrage, wie Gebhard Borck in seinem „Affenmärchen“ und Christian Felber in seiner →Gemeinwohl-Ökonomie zu Recht kritisieren.
Außerdem vermisse ich nach dem großen Schritt, Unternehmen endlich mal als lebende Systeme zu verstehen, eine selbstkritische Auseinandersetzung mit dem Kerngeschäft von Shell. Als eines der weltweit größten Öl- und Erdgasunternehmen trägt Shell nicht nur zur Gesundheit unserer Ökosysteme bei. Wer Unternehmen als lebendig erachtet, der sollte sich auch etwas intensiver mit der Umwelt dieser Unternehmen beschäftigen.
Fazit: Gerade jetzt, rund anderthalb Jahrzehnte nach seinem Erscheinen lohnt die Lektüre dieses bahnbrechenden Buches für alle, die Unternehmen als lebende Systeme verstehen wollen. Es ist bereichernd für alle, die sich von verschiedenen Beispielen langlebiger Unternehmen inspirieren lassen wollen, die sich über Jahrhunderte immer wieder neue erfunden haben.
Herzliche Grüße
Andreas Zeuch
de Geus, A. (1998): Jenseits der Ökonomie. Die Verantwortung der Unternehmen. Klett-Cotta. Gebunden, 332 Seiten. Gebraucht ab 15,85 €
Dearlove, D. (2004): Interview: Arie de Geus. Business Strategy Review. Insights for global Business. London Business School. (Ein gutes Interview, auch kostenfrei als PDF erhältlich)
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