Das Ende des Zufalls

Liebe Leserinnen und Leser!

Die Entscheidung, dieses Buch hier zu besprechen und also zu empfehlen, fiel mir ebenso leicht wie schwer. Ich teile so gut wie keine der Bewertungen Klausnitzers über das, was er gründlich recherchiert hat. Im Gegenteil: Ich halte viele seiner Interpretationen für erschreckend unreflektiert. Aber in einem Punkt stimme ich Klausnitzer völlig zu und das ist Grund genug, das Buch zu empfehlen: „Wir haben in großen Teilen der Gesellschaft und auch der Politik noch nicht einmal das Verständnis dafür, was da technologisch überhaupt abläuft – und welche Dimensionen es bekommen wird. Geschweige denn eine Vorstellung, wie wir das gesellschaftspolitisch regeln werden.“ (S. 180*)

Klausnitzer 2013 - Das Ende des Zufalls

Vor kurzem habe ich für einen Vortrag das Stichwort „Big Data“ gegoogelt. Das Ergebnis: 2.070.000.000 Treffer in 0,29 Sekunden. Es handelt sich recht eindeutig um einen neuen technologischen Hype. Ein neues technologisches Heilsversprechen, dass wir mit den immer gigantischeren Möglichkeiten der Datensammlung und -auswertung endlich unser Leben und insbesondere unsere Wirtschaft vollumfänglich unter Kontrolle bringen. Tod dem Zufall, Tod der unbekannten Zukunft. Mit Big Data haben wir nun unsere postmoderne Kristallkugel geschaffen und lachen nur noch müde über Kaffeesatzlesen oder andere archaische Techniken der Zukunftsvorhersage. Jetzt können wir endlich wirklich die Welt und ihre Zukunft kontrollieren.

Und diese Hoffnung unterschreibt Klausnitzer immer wieder. Dazu eines von vielen Beispielen: „Zufälle sind – solange der Mensch sich nicht einmischt – beim fahrerlosen Google-Auto ausgeschlossen.“ (S. 66) Da finden wir nicht nur das Endes des Zufalls schwarz auf weiß, sondern auch gleich noch die lästige Fehlerquelle, die unser Leben bislang so unerträglich unkontrollierbar macht: Wir Menschen. Ein Autopilot ist ja wahrlich nichts neues. Im wesentlich komplexeren Flugraum vertrauen wir schon lange einer menschenfreien Maschinensteuerung. Dumm nur, dass es trotzdem immer wieder zu unvorhergesehenen Fehlern und Katastrophen kommt. Ich erinnere nur an Flug AF447 von Rio de Janeiro nach Paris im Juni 2009. Seinerzeit fielen vermutlich aufgrund von Vereisung die sogenannten Pilot-Sonden aus, die die Geschwindigkeit des Flugzeugs messen. In der Folge schaltete sich der Autopilot ab und es kam aufgrund mangelnden Trainings zu falschen Reaktionen seitens der Piloten. Die tragische Folge davon war ein Strömungsabriss, der zum Absturz führte. Die auslösende Ursache bestand also in einem technischen Versagen.

Das zweifelsfrei mittlerweile regelrechte Monstrositäten an Datenspeicherung und -analyse möglich sind, belegt der sich immer weiter ausweitende NSA Skandal (auf den Klausnitzer leider nicht eingehen konnte, weil er zur Zeit der Manuskriptabgabe noch nicht bekannt war). Keine Frage: Einmal mehr hat der bereits von mir an anderer Stelle erwähnte österreichische Philosoph Günther Anders Recht. Was möglich ist, wird auch realisiert. Im Falle der NSA regiert nicht die Politik, sondern die Möglichkeiten der Technologie. Nicht viel anders verhält es sich mit dem Highspeed-Trading oder anderen Algorithmus Einsätzen. Zwei Beispiele illustrieren den Wahnwitz der allgewaltigen Technik: Erstens der Flash Crash vom 06. Mai 2010, als innerhalb weniger Minuten zwei Leitindices der USA um sechs beziehungsweise neun Prozent sanken. Zweitens die herrlich absurde Geschichte, wie ein normales gebrauchtes Buch bei Amazon.com plötzlich für knapp 23,7 Millionen Dollar angeboten wurde. Ein weiteres Anwendungsfeld ist die evidenzbasierte Medizin. Endlich soll nicht mehr die einzelne Expertise des Arztes zu medizinischen Entscheidungen führen, sondern die Auswertung tausender Fälle, die dann zu Gold Standars führen. Tja, dumm nur, dass dieses System einen teuren Preis hat, den Klausnitzer nicht erwähnt: Nämlich alleine rund 30 Millionen teils schwer Erkrankte in Europa, die an seltenen, komplexen Krankheiten leiden, für die es keine evidenzbasierten Daten und Analysen gibt, weil die Fallzahlen zu klein sind.

Und natürlich gesellt sich noch der übliche Quatsch zu all dem: „datenorientierte Fakten statt Bauchgefühl“. Gerade so, als ob unsere Intuition nicht ihrerseits datengetrieben wäre. Das Erklärungsmodell der unbewussten Wahrnehmung und Informationsverarbeitung belegt genau das. Und zwar, dass wir unbewusst schneller mehr Daten wahrnehmen und verarbeiten, als bewusst. Dummerweise können wir nicht in jeder Situation die Entscheidung an einen Algorithmus delegieren. Und wenn wir es könnten, eines Tages im gelobten Land der möglichen Totalkontrolle, stellt sich doch eine ganz zentrale Frage: WOLLEN wir das überhaupt? Das Maschinen wichtige Entscheidungen für uns treffen und wir uns selbst zu ihren Erfüllungsgehilfen machen?

Ebensowenig hinterfragt Klausnitzer ernsthaft unser Wirtschaftssystem. Wenn er schreibt, das „am Ende … jene Unternehmen Sieger sein (werden), die die Daten richtig deuten können.“ (S. 35) geht er immer noch von einem eigennutzenmaximierenden Nullsummenspiel der Akteure aus. Er argumentiert althergebracht  vom Denkmodell des Verdrängungswettbewerbs aus. Obwohl doch sogar heute schon klar ist, dass genau das keineswegs die einzige Option ist, wie die Spieltheorethiker Brandenburger und Nalebuff gezeigt haben (→ „Coopetition„). Darüber hinaus stellt sich die Frage: Welche Rolle spielen wir noch in einer (Wirtschafts-)Welt, in der das Ideal darin besteht, alle durch Menschen nur suboptimal zu lösenden Probleme zukünftig von Maschinen abarbeiten zu lassen? Natürlich verbirgt sich dahinter die alte menschliche Sehnsucht, Gott zu spielen. Natürlich ist Big Data deshalb auch nur der Kindergarten, in dem wir üben, um dann später endlich den perfekten künstlichen Menschen zu schaffen. iRobot im Quadrat. Nicht so lächerlich hölzernen, sondern aus Fleisch und Blut. Und selbst wenn wir es schaffen: Wozu der ganze idiotische Zauber? Tragen wir nicht längst alle einen göttlichen Funken in uns? Reicht es nicht, das Wunder unserer eigenen Kinder zu bestaunen? Klausnitzer jedenfalls scheint dieser Gedankengang nicht im entferntesten gekommen zu sein.

Fazit: Dieses Buch lohnt für alle, die sich selbst noch mangelndes Wissen über die Möglichkeiten und eventuellen Folgen von Big Data attestieren würden. Allerdings sollte sich jeder eine ordentliche Prise kritisches Denkvermögen beim Lesen bewahren.

 

Herzliche Grüße

Andreas Zeuch

Klausnitzer, R. (2013): Das Ende des Zufalls. Wie Big Data uns und unser Leben vorhersagbar macht. Ecowin Verlag. Gebunden, 232 Seiten. 21,90 €

 

* Wie so oft: Ich hatte das Buch wieder als E-Book gekauft. Somit sind die Seitenangaben abhängig von der gewählten Schriftgröße.

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