Die Irrtümer der Komplexität
Ich lernte die Autorin dieses Buches, Stephanie Borgert, auf dem Management-Innovation Camp Ende Januar 2016 kennen. Wir hielten beide einen kurzen Impulsvortrag und hatten so das Vergnügen, den/die andere(n) im je eigenen Element zu erleben. Stephanies Vortrag über Komplexität hat mir sehr gut gefallen, durchgehend souverän, kompetent und mit großer Ernsthaftigkeit ohne aufmerksamkeitsheischende Humoreinlagen. Irgendwann hatte ich dann ihr aktuelles Buch vorliegen, dass zweifelsfrei einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung alternativer Formen der Unternehmensführung und -gestaltung liefert. Ein Beitrag, der in hohem Maße zum Mantel-Konzept der Unternehmensdemokratie passt.
Stephanie weiß, wovon sie spricht und schreibt. Sie hat eine fundierte berufliche Erfahrung, die in und zwischen den Zeilen fortwährend spürbar ist: Die Diplom-Informatikerin war Führungskraft in mehren System- Softwarehäusern, hat Geschäftsbereiche auf- und ausgebaut, war im „Key-Account-Management für den größten Telekommunikationskonzern Europas“, hat als Projektmanagerin ein Multimillionen Budget verantwortet, Krisen in globalen Projekten gemanagt und Business Development für multinationale Outsourcing-Projekte betrieben. Eine durch und durch überzeugende Grundlage, um über die „Irrtümer der Komplexität“ ein praxisbezogenes Sachbuch zu schreiben.
Der Titel des Buches ist die Grundidee, der rote Faden, anhand dessen Stephanie das Thema gekonnt und sicher entfaltet: Die Irrtümer der Komplexität. Eingerahmt vom ersten Kapitel zur Frage „Komplexität: Mythos oder Wirklichkeit“ und dem abschließenden Kapitel „Komplexität meistern“ werden die LeserInnen über folgende Fehlannahmen aufgeklärt:
- Vereinfachung führt zu Erfolg
- Komplexität ist gleich kompliziert
- Die Experten werden es schon richten
- Wir dürfen keine Fehler machen
- Gute Planung ist alles
- Viele Daten sorgen für Durchblick
- Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser
- Konkurrenz belebt das Geschäft
- Einer muss sagen wo es lang geht
Im einleitenden Kapitel findet sich gegen Ende eine hilfreiche Auflistung von „Indizien für einen falschen Umgang mit Komplexität“. Wer hier aufrichtig in den Spiegel blickt, wird vielleicht fündig und kann sich so vor Schlimmeren bewahren, wenn er oder sie feststellt, dass das eine oder andere zutrifft: Es werden nur Symptome bekämpft, das „was sich gerade zeigt“ ohne dahinter zu blicken und die tiefer liegenden Ursachen zu erforschen. Oder es wird „Übergeneralisiert„, indem aus viel zu wenigen häufig nicht zusammenhängenden Ereignissen Schlussfolgerungen oder gar Regeln abgeleitet werden. Oder es herrscht eine dysfunktionale Methodengläubigkeit. Als Problemlösung werden einfach vorhandene Methoden überarbeitet oder neue eingeführt. Oder es wird sinnlos Projektmacherei betrieben, gemäß dem Motto „Wenn du nicht mehr weiter weißt, bilde einen Arbeitskreis.“ Damit eng verbunden ist aktionistische, betriebsame Hektik. Wenig hilfreich für einen kompetenten Umgang mit Komplexität ist auch das Denken in kurzen Laufzeiten, in denen nur die direkten Wirkungszusammenhänge gesucht und betrachtet werden. Oder das aktuelle mentale Modell wird vor der Welt in Schutz genommen, es werden vorzugsweise Informationen gesucht und verarbeitet, die das alte Weltbild bestätigen. Damit wiederum verbunden ist das Indiz, Feedback weder zu hören noch zu verstehen. Last not least das mangelnde Systemdenken. das sich vor allem durch eine lineare Ursache- Wirkungslogik auszeichnet.
Ein zentraler Unterschied zwischen kompliziert und komplex liegt darin, dass komplizierte Probleme durch intelligente Analysen gelöst werden können. Komplexe Herausforderungen liegen jedoch jenseits von Analysen und perfekten Planungen. Sie erfordern Experimente. Kleine iterative Schritte, die zu einem direkten Feedback und damit einer informationellen Rückkopplung führen und zeigen, ob der eingeschlagene Weg erfolgreich ist oder nicht. Alle mir bekannten Methoden selbstorganisierter Unternehmensführung wie Scrum oder Soziokratie bzw. Holacracy tragen dem Rechnung. Das erfordert allerdings, wie so vieles Andere im klugen Umgang mit Komplexität, eine Änderung der inneren Haltung. Denn im Allgemeinen sind „Experimente“ im Arbeitsleben nicht erwünscht. Dabei sind sie doch der Kern unserer Wissensgesellschaft: Das Experiment zur Überprüfung wissenschaftlicher Hypothesen. Ohne sie würden wir noch im Ursumpf als bewusslose Bakterien dahinvegetieren.
Wer in komplexen Umfeldern handelt, wird früher oder später Fehler machen. No way out. Eine auch für mich neue, äußerst hilfreiche begriffliche Unterscheidung stellt Stephanie im Kapitel über den vierten Irrtum „Wir dürfen keine Fehler machen“ dar: „Jede Organisation liegt auf der Achse „Fehlerkultur“ irgendwo zwischen „ausfallsicher“ (Fail-safe) und „sicher ausfallen“ (Safe-fail). Es geht um Schadensvermeidung versus Schadensbegrenzung.“ (S. 106) Die Grundlage des Safe-fail Prinzips sind eben jene Experimente, die es braucht, um dauerhaft erfolgreiche Entscheidungen treffen zu können. Dabei geht es darum, Fehler zu erwarten und sogar zu erzeugen. Denn ganz so, wie in der Wissenschaft, können wir Annahmen niemals endgültig validieren (beweisen), sondern nur falsifizieren. Solange wir eine Hypothese nicht widerlegt haben, können wir sie als gültig annehmen und auf ihrer Grundlage handeln. Alles andere ist der Rückschritt in reine Glaubensbekenntnisse.
Schlussendlich sind mir zwei Aspekte aufgefallen, zu denen ich etwas kritisch anmerken möchte: Da wäre zunächst die Reflexion der Funktion von Regeln für komplexe Systeme. Wohl wahr, denke ich mir: Natürlich braucht es Regeln, damit ein komplexes System adaptiv und damit überlebensfähig wird und bleibt. Allerdings fehlt mir eine kritische Analyse von Regeln. Wie grenzen wir im eben genannten Sinne notwendige Regeln von bürokratischen Regeln ab? Und welche innere Haltung ist im Umgang mit Regeln sinnvoll? In meinem vorletzten Buch „Feel it! Soviel Intuition verträgt ihr Unternehmen“ hatte ich Regeln anhand der Tragödie der „Herald of Free Enterprise“ analysiert und kam zu dem Ergebnis: „Eine Regel ersetzt nicht ihren Sinn.“ Jeder Akteur in einer Organisation ist angehalten, Regeln immer wieder kritisch zu hinterfragen – und sie in dem Moment zu brechen, wenn sie ihren Sinn nicht mehr erfüllen, denn ansonsten kann das Einhalten von Regeln zu Katastrophen führen. Zweitens fehlte eine Reflexion intuitiv-emotionaler Entscheidungsprozesse in komplexen Umfeldern. Denn genau das ist, wie ich es sowohl mit meiner Dissertation zum Training professioneller Intuition als auch mit dem eben erwähnten Sachbuch „Feel it“ gezeigt habe, das zentrale Anwendungsfeld von Intuition. Wir wissen seit rund 50 Jahren auf der Basis zahlloser empirischer Studien, dass wir unsere menschliche Intuition kritisch reflektiert zu Rate ziehen sollten, wenn rationales Denken in seiner sequentiellen Informationsverarbeitung zu langsam wird.
Fazit: Ein sehr gutes Buch für alle, die sich noch nicht intensiv mit Komplexität und ihren Folgen für die Führung und Gestaltung von Organisationen auseinandergesetzt haben. Neben einem nützlichen Verständnis des Themas wird die Lektüre mit zahlreichen Vorschlägen für den täglichen Umgang mit Komplexität belohnt, anstatt mit dümmlichen Erfolgsrezepten á la „simplify complexity“ belogen zu werden.
Herzliche Grüße
Andreas
Borgert, S. (2015): Die Irrtümer der Komplexität. Warum wir ein neues Management brauchen. Gabal. Gebunden, 256 Seiten, € 29,90
Nur auf „Fehlannahmen“ hinzuweisen, reicht m.E. heute nicht länger. Insbesondere da die Punkte, die Frau Borgert in ihrem Buch anspricht, seit vielen Jahren diskutiert werden (z.B. in der Organisationstheorie, in der agilen Literatur, etc.).
Es gehören die „theoretischen und konzeptuellen Grundlagen“, wie wir über Kommunikation / Handeln / Soziales (und dann insbes. Organisationen) / Management, etc. nachdenken und kommunizieren, auf den Prüfstand. Denn wenn das alles allzu „traditionell“ bleibt, dann landen wir doch irgendwie wieder bei obsoleten Steuerungs-, Kontroll-, Gestaltungs-, Interventions-, etc. Vorstellungen.
Beispiel: „Feedback weder zu hören noch zu verstehen“
Das verweist auf ein traditionelles und relativ unreflektiertes Kommunikationsverständnis. Aus systemtheoretischer oder dekonstruktiver Perspektive ist seit Jahrzehnten klar, daß Kommunikationsakzeptanz tendenziell „unwahrscheinlich“ ist, also gerade „nicht“ der zu erwartende Normalfall darstellt.
Und das führt zu einem Organisationsverständnis, bei dem sich Fragen auftun à la:
* Warum lernen Organisationen gerade „nicht“?
* Warum werden Adaptationen „nicht“ vollzogen?
* Warum laufen Change-Projekte ins Leere?
etc.
Es beschleicht mich seit langem das Gefühl, daß primäre „Praktiker“-Analysen hier nicht mehr ausreichen, weil das viel zu oberflächlich bleibt. Da gehören mehr die (komplexitätsorientierten) Sozial-, Organisations-, etc. Wissenschaften ins Spiel gebracht…
Aber wie Sie ja schreiben, als Einsteigerlektüre könnte das Buch durchaus nützlich sein 🙂