Die fragwürdigen Grundlagen der Ökonomie

Liebe Leserinnen und Leser!

Vor knapp vier Wochen bekam ich zu meinem Geburtstag „Die fragwürdigen Grundlagen der Ökonomie“. Es war ein sehr gelungenes Geschenk, denn das Buch hat sich als genauso hervorragend erwiesen, wie ich vermutete – weil ich Karl-Heinz Brodbeck schon kannte. Und zwar als Autor des ebenso brillanten Artikels „Die Differenz zwischen Wissen und Nichtwissen“ in meinem eigenen Herausgeberband „Management von Nichtwissen in Unternehmen“ von 2007. Das hier empfohlene Buch ist eine messerscharfe Analyse unserer Betriebs- und Volkswirtschaft. Ein Skalpell, dass all den pseudowissenschaftlichen Unsinn der Ökonomie blank legt, so dass jeder, der zu echtem Denken gewillt ist, deren abgrundtiefe Irrtümer erkennen kann. 

Karl-Heinz Brodbeck ist Professor für Volkswirtschaftslehre, Volkswirtschaftspolitik, Betriebsstatistik und Kreativitätstechniken an der Fachhochschule Würzburg-Schweinfurt und an der Hochschule für Politik für Wirtschaftspolitik. Zudem ist er Vorsitzender des Kuratoriums der Fairness-Stiftung. Er wurde bekannt durch viele Veröffentlichungen zur Theorie der Ökonomie, Kreativität und Wirtschaftsethik. Das Besondere ist dabei seine alltagstaugliche Verbindung zum Buddhismus. 

In seinem mittlerweile in 6. Auflage vorliegenden Bestseller „Die fragwürdigen Grundlagen der Ökonomie“ analysiert er die Betriebs- und Volkswirtschaftslehre in fünf Kapiteln, die zentrale Aspekte unserer heutigen Ökonomie darstellen:

  1. Wissenschaftstheoretische Voraussetzungen
  2. Soziale Physik
  3. Zeit
  4. Natur und
  5. Rationalität
Zu Beginn befasst sich Brodbeck mit den wissenschaftstheoretischen Voraussetzungen unserer heute noch gültigen, immer noch vorwiegend mechanisch gedachten Ökonomie. Zentral ist dabei der Begriff der Denkmodelle: Sie sind als Gewohnheiten des Geistes häufig unbewusste soziale Wirklichkeit. Sie sind ein Paradigma, ein Rahmen, in dem geforscht, gedacht und gehandelt wird. Dabei wird in den seltensten Fällen dieser Denk- und Handlungsrahmen selbst reflektiert, sondern als Stand des Wissens und Best-Practice vorausgesetzt. Das führt zu der Verschleierung der Tatsache, dass „Fakten immer schon in einer interpretierten Form“ vorliegen (S. 7). Somit verstricken sich die Wirtschaftswissenschaften in fundamentale Widersprüche und Probleme, das sie physische und soziale Realität gleichsetzen und objektive Gesetze behaupten. Schon lange wissen wir, dass selbst in der Physik das Experiment durch den Beobachter beeinflusst wird, was natürlich umso mehr für alle Bereiche menschlichen Handelns gilt. Damit aber nicht genug. Denn selbst wenn es objektive Gesetze in der Wirtschaft gäbe, hätten sie einen anderen Charakter als in der Naturwissenschaft. 
 
Im zweiten Kapitel zur „sozialen Physik“ macht Brodbeck klar, warum diese Analogie niemals funktionieren kann, warum die normative Theorie des Homo oeconomicus, die natürlich im letzten Kapitel zur Rationalität nochmals ausführlich auftaucht, haltlos ist. Am Beispiel der Preisbildung im Vergleich zur Berechnung der Tiefe eines Brunnens durch einen fallenden Stein wird dies schnell deutlich: „Der fallende Stein „weiß“ vor allem nichts von all diesen Einflussgrößen. Die ökonomischen Beobachtungsgrößen sind dagegen von sehr vielen „Faktoren“ faktisch und nachweisbar auf relevante Weise beeinflusst, gerade weil die wirtschaftlich Handelnden in ihren Entscheidungen durch das Wissen um ihre Handlungssituation motiviert sind. Entscheidungen entwerfen die Situation, in der sie sich vollziehen kreativ.“ (S. 30, kursiv im Original). 
Im weiteren Verlauf arbeitet sich Brodbeck gleichsam durch die Geschichte der physischen Mechanik bis hin zur Thermodynamik, die auch keinen Ausweg des Irrwegs darstellt. Jede Erkenntnis hebt das Gesetz auf: „Wenn alle Firmen wissen, dass ein bestimmtes Produktionsverfahren zu einer Kostenersparnis führt und dieses Verfahren anwenden, dann verschwindet der relative Effekt der Kostenersparnis, weil sich die Produktion aller verbilligt und der Preis entsprechend sinken wird.“ (S. 71). Außerdem würde dadurch für alle rational handelnden Menschen der Vorteil darin bestehen, diese Gesetze nicht zu beachten und das „gesetzmäßige Verhalten der anderen kreativ zu nutzen.“ (a.a.O.) Dies alles ist viel mehr als theoretische Spielerei, als mentale Selbstbefriedigung. Denn wir erschaffen durch politische Programme und wirtschaftliches Handeln gemäß dieses mechanischen Denkmodells unsere Wirklichkeit. Und die ist, wie wir heute wissen, reichlich problematisch. 
 
Zeit ist Geld, behauptete Benjamin Franklin 1748 in seinem „Guten Rath an einen jungen Handwerker.“ Wer kennt diesen Rat, diese ökonomische Sicht nicht? Wer hat sich selbst nicht schon einmal daran versucht? Franklin formulierte ehedem, was heute allerortens nicht mehr übersehbar ist: Die Beschleunigung von Produktions- und damit Arbeitszyklen, nur um immer schneller Produkte auf den Markt zu werfen und damit letztlich den Gewinn zu steigern. Unabhängig von der Frage, ob das für das Gemeinwohl sinnvoll ist, macht Brodbeck seine Analyse des ökonomischen Zeitbegriffs zur Grundlage einer Fundamentalkritik an Erwartungen, Vorhersagen, Planungsprozessen und der damit in Verbindung stehenden Gleichgewichtstheorie. 

Beispielhaft greife ich hier das Planungsproblem heraus: Arbeit wird seit langem mit der Uhr synchronisiert und koordiniert. Um Pläne realisieren zu können, dürfen erstens keine Fehler oder unvorhergesehenen Ereignisse eintreten und zweitens darf keine Konkurrenz zwischen einzelnen Handlungen vorliegen. Da aber beides der Fall ist, scheitern Pläne immer wieder. Da helfen die besten Projektmanagementmethoden oder Planungstools nicht weiter. Improvisation ist an der Tagesordnung, was aber immer noch verpönt ist. (Dazu mehr in meinem Artikel „Erstens kommt es anders, zweitens als man denkt.“) Somit wird Ungewissheit als Form des Nichtwissens zur zentralen Größe in der Wirtschaft. Ein weiterer Grund, warum das mechanische Denkmodell der Wirtschaft in all seinen Variationen zum Scheitern verurteilt ist. Denn was jenseits des auch nur gering Erwarteten liegt, kann nicht oder nur äußerst unzureichend berechnet werden, wie auch Nassim Nicholas Taleb in seinem →“Schwarzen Schwan“ gezeigt hat. 

Brodbecks Vortrag über Geld als Denkmodell

Die Natur ist als Ressource für jegliche Wirtschaftsgüter eine zentrale Größe. Sie wird der grundsätzlichen Denkfigur der Mechanik als Naturwissenschaft folgend als berechenbar angenommen, um die eben erwähnte, bohrende Ungewissheit, das Nichtwissen zu minimieren, beziehungsweise möglichst komplett aus der Rechnung zu tilgen. Daraus entsteht dann eine Kaskade von Irrtümern, die dazu führt, Produktionsprozesse naturgesetzlich zu beschreiben und steuern zu wollen. Auf umgekehrten Wege beeinflusst dann wiederum die maschinelle Mechanik unser Naturverständnis, das spätestens seit Descartes zutiefst unorganisch maschinell ist. Tiere sind Maschinen, Ökosysteme greifen wie Zahnräder ineinander. Interessant ist auch Brodbecks Hinweis, dass die Begriffe Ökologie und Ökonomie sich jeweils vom „Oikos“, der Hauswirtschaft ableiten. Die Natur ist damit begrifflich zutiefst als „unsere lebensherhaltende Umwelt“ (S. 175) definiert, als reine Ressource für unser Leben. Damit gehen Ökonomie und Ökologie, die ja heute häufig als so gegensätzlich erscheinen, auf dieselbe Wurzel zurück. 

Im letzten Abschnitt dieses Kapitels, „der ökologische Rest“ denkt Brodbeck das Ungeheure radikal zu Ende: „Wenn ökologisches Gleichgewicht nicht etwas ist, das der Natur innerlich zukommt (was er meines Erachtens belegt hat, A.Z.), dann ist eine „Erhaltung“ des natürlich Gleichgewichts eine grundlegende Illusion.“ (S. 183). Daraus erwächst die Frage, ob wir gewillt sind, „die Steuerung des gesamten Planeten bewusst zu übernehmen?“ (ebnd.). Das heißt dann folgerichtig: „Auch der Mensch müsste sich  … selbst neu schaffen…“ (S. 184). Das hat der deutsche Philosoph Martin Heidegger schon 1967 auf den Punkt gebracht: „Da der Mensch der wichtigste Rohstoff ist, darf damit gerechnet werden, dass … eines Tages Fabriken zur künstlichen Zeugung von Menschenmaterial errichtet werden.“ (S. 183). Wo wir heute diesbezüglich stehen, wissen wir. Ob wir das als Weltgemeinschaft wollen, steht noch zur Debatte. 
 
Das letzte Kapitel ist eine Untersuchung des irrwitzigen Mythos der Rationalität. Denn Ökonomie ist die Lehre vom rationalen Handeln. Zumindest bisher und in den meisten Fällen. Zwar gibt es erste zarte Pflänzchen, die auch das Irrationale und unsere Gefühle miteinbeziehen, aber eben immer noch im Versuch eines Kalküls. Davon zeugen all die irrsinnigen, aktuellen Versuche des Neuromarketings, dass sich seinerseits in den Irrungen und Wirrungen unwissenschaftlicher Interpretationen und Versuchsaufbauten mit bildgebenden Verfahren bedient, wie Felix Hasler in seinem hervorragenden Buch →“Neuromythologie“ gezeigt hat.
Auf subtile Weise hat die Mechanik und Berechenbarkeit bereits seit langem das menschliche Leben in der Wahrnehmung und Argumentation der Ökonomie durchdrungen. Ihren Ausdruck findet diese Durchdringung im Homo oeconomicus. „Der rational Handelnde wendet nicht einfach Rechnungen zur Weltbeschreibung an, er ist gewissermaßen selbst zu einer Rechenmaschine geworden.“ (S. 194). Und er ist natürlich selbst berechenbar. Dank Big Data und heutiger sozialer Netzwerke können wir endlich, so scheint es, auf der Basis der Berechnung gestriger Gewohnheiten zukünftige Handlungen vorhersagen. Der Wirtschaftsmensch berechnet aber nicht nur, sondern seine Prämisse ist das des „Mehr-ist-besser“, schließlich lässt sich dies am einfachsten berechnen. 
Und wie steht es um unternehmerische Innovationen? Sind sie alleine rational beschreib- und erzeugbar? Brodbeck stellt unmissverständlich in der Auseinandersetzung mit Schumpeter klar, dass Innovationen „scharf gegen die traditionelle Theorie“ (S. 244) abgegrenzt sind. Damit werden Gewohnheiten (Pläne, Prozesse) zum Hemmschuh, zum innovationsfeindlichen Hindernis für Innovationen. Was auf ganz andere Art und Weise auch Clayton Christensen mit seiner fundierten empirischen Analyse gezeigt hat (→“The Innovator’s Dilemma„).
 
Fazit: Brodbecks Buch ist mehr als einfach nur eines von vielen theoretischen Wirtschaftsfachbüchern. Es ist ein Meilenstein der Ökonomie. Es ist für all jene wichtig, die Wirtschaft mechanisch denken, die Rationalität immer noch hochhalten. Und es ist umgekehrt für alle wertvoll, die genau dem schon eine Absage erteilt haben, aber noch Bedarf an einer Vertiefung ihrer Sichtweise haben. Und die Argumente brauchen können, wenn es zur Diskussion kommt. Nur wer nicht denken will, der sollte die Hände von diesem Werk lassen. 

Herzliche Grüße
Andreas Zeuch

Brodbeck, K.-H. (2013):Die fragwürdigen Grundlagen der Ökonomie. Eine philosophische Kritik der modernen Wirtschaftswissenschaften. 6. Auflage. Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Gebunden, 298 Seiten. 24,90€

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