Gefährliche Ideen
Liebe Leserin, lieber Leser!
Als ich beim Campus Verlag neulich auf der Homepage surfte, um die Presseabteilung zu finden, stolperte ich über das witzige Cover von Alf Rehns neuem Buch. Die Glühbirnen-Handgranate hat sich gleich in mein Gedächtnis gebrannt und vor allem: mein Interesse geweckt an einem Thema, dass mir naheliegt: Ungehemmtes Denken und der Bruch mit alten Bezugssystemen.
Kreativ über Kreativität denken – das ist der erste und wichtigste Schritt, den Alf Rehn in seinem Buch unternimmt. Da bin ich voll dabei und denke an all das nervtötende Innovationsgeschwafel in 99% aller Unternehmen, die Kreativität und Innovation in der Innen- und Außenkommunikation heilig sprechen und in ihrem Leitbild und ihrer Strategie betonen. So wie wir eine Innovation des Innovationsbegriffs brauchen (schließlich meinen wir mit Innovationen fast immer nur technische Innovationen – und das, obwohl wir unser BIP heutzutage mit über 70% durch Dienstleistungen erwirtschaften!); genau so sollten wir tunlichst damit beginnen, endlich mal kreativ über Kreativität nachzudenken. Denn, so Rehn, Kreativität beginnt mit offenem Denken, dass zielgenau die eigenen Tabus und die anderer verletzen will. Kreativität muss ab und an auch weh tun und richtig unangenehm sein. Kreativität ist eben immer auch die Schumpetersche schöpferische Zerstörung.
Und so gilt auch: Kreativität ist keineswegs immer gut! Sorry, lieber Alf, ich stimm Dir schon wieder zu, ganz ohne Protest (bin ich jetzt zu angepasst?). Es ist nämlich schlicht und ergreifend erstens logisch, schließlich kann Kreativität auch dazu genutzt werden, um sich besonders trickreich illegal zu bereichern; oder um als Hacker ein paar Millionen Rechner mit Viren, Trojanern und sonstiger Malware zu verseuchen. Zweitens konnte genau das bereits in Studien belegt werden. Drittens und am wichtigsten: Die Aussage „x ist gut“ tilgt immer die Frage: Gut für wen? Sogesehen ist die Annahme, Kreativität sei an sich gut, ohnehin Blödsinn.
Ein paar spannende und anstößige Prinzipien, wie wir kreativer werden können, gefallen mir besonders gut: Wir sollten uns mit jeder Form von Ekel konfrontieren und Obszönität suchen, denn dort liegen Tabus versteckt, die Denk- und Kreativitätsgrenzen darstellen. Da steckt sicher eine Menge wertvoller, schmerzhafter Wahrheit. Zur Obszönität und dem damit verbundenen Sex fiel mir allerdings kritisch auf, dass doch mittlerweile für so ziemlich jedes Produkt, das Männer kaufen sollen, reichlich sexualisierte Werbung unsere Gehirne penetriert. Wer Axe anwendet, bekommt umgehend von einer geilen DD-Bikini-Schönheit die Haare gekrault (und dann folgt in der Phantasie natürlich noch Weiteres, eben „und-ob-das-schön-ist“, schließlich geht die Sonne bereits unter).
Schwamm drüber und weiter: Rehn fordert auf, mehr und besser zu kopieren und das ewige Gefasel über Originalität und den First-Mover-Vorteil mal kritisch-kreativ zu überdenken.
Ebenso wertvoll sind seine Reflexionen über die Vielfalt der Vielfalt, denn welche Form von Vielfalt ist denn jeweils tatsächlich eine Grundlage für Kreativität? Ethnische Vielfalt, Gendervielfalt, Altersvielfalt, Ausbildungsvielfalt…?
Zentral für die Entwicklung eines kreativen und innovativen Unternehmens ist letztlich die Einsicht und dann zu entwickelnde Fähigkeit, Kontrollfantasien loszulassen. Kreativität lässt sich nicht domestizieren. Echte Kreativität ist eben schmutzig, obszön, tabubrechend und gefährlich. Und es braucht neben all den Kreativen auch die Erbsenzähler, die eine tolle Idee am Ende des Tages erfolgreich umsetzen.
Neben dem Zerschmettern althergebrachter Kreativitäts-Glaubenssätze gibt es noch eine Reihe wirklich neuer Beispiele, mit denen der Autor die unliebsamen Charaktereigenschaften echter Kreativität illustriert: Da wäre die Süßigkeit, die in einem Plastikohr verkauft wird und als Ohrenschmalz mit einer Art Q-Tip aus dem Gehörgang geschmiert wird; oder Fun Betty, ein Färbemittel für Schamhaare; oder iFart, eine der anfänglich erfolgreichsten iPhone Apps, die – Nomen est Omen – menschliche Fürze vielgestaltig simulieren kann; oder Yves Saint Laurents „Le Smoking“, ein festlicher Anzug für Frauen, der in den 1968ern tatsächlich für ziemlichen Tumult sorgte.
Natürlich gibt es ein paar Dinge, die mich überhaupt nicht überzeugten: Rehn spricht von der sogenannten „kognitiven Flüssigkeit“, die weder mir noch Google oder Wikipedia bislang ein bekannter psychologischer Begriff war. Aber sei’s drum, Rehn meint damit, „dass das Gehirn sich von Dingen angezogen fühlt, an die es sich gewöhnt hat.“ (S. 85). Nun, das führt in vielen Fällen sicher zu kreativitätsfeindlichen Ansichten und Verhalten. In anderen Fällen brilliert dieser Mechanismus aber als Heuristik oder Faustregel, die uns in komplizierten und komplexen Entscheidungssituationen zu schnellen und doch erfolgreichen Entscheidungen führt. Hier hätte ich mir mehr Differenzierung gewünscht.
Desweiteren nimmt der Autor für sich in Anspruch, „vermutlich recht gut“ zu wissen, wie das Gehirn des Lesers funktioniere – nur um dann mit reichlich beschränkter Theorie zu begründen, warum Intuition „der Feind jeder Kreativität“ (S. 108) sei. Autsch, da hat er wohl das seit rund 40 Jahren experimentell und empirisch belegte Erklärungsmodell der unbewussten Wahrnehmung und Informationsverarbeitung komplett übersehen oder vergessen. Dieses Modell erklärt, warum Intuition sogar eine Grundlage jeder Kreativität ist. Da Intuition jedoch in unserer Wirtschaftswelt immer noch als unseriös gilt und das Mainstream-Management auf dieses scheue Tier weiterhin einprügelt, ist es auch zukünftig dringend nötig, diese tumbe Unwissenheit, die sich dreist auch noch als wissenschaftliche Betriebsführung verkauft, ihrer Borniertheit zu überführen. Somit klafft hier bei Rehn eine Lücke, die bei einem Kreativitätsexperten extrem erstaunlich ist.
Sonderbar berührt hat mich auch die Kritik auf das angebliche Hohelied der Konsens-Entscheidung. In den meisten Unternehmen besteht immer noch eine per Arbeitsvertrag geregelte Weisungsbefugnis, von der auch munter Gebrauch gemacht wird. Demokratischer Konsens ist viel mehr die revolutionäre Ausnahme, so wie in den CPP Studios (→vergleiche meine Rezension zu „Erfolgreich ohne Chef“).
Die Ausstattung des Buches ist ambivalent: Einerseits ist die Haptik und Optik gut gelungen. Der Verlag hat sich Mühe gegeben und eine würdige Hülle kreiert. Alf Rehn hingegen war entweder zu faul oder sonstwie unwillig, interessierten Lesern ordentliche Literaturangaben mit auf den Weg zu geben. Da mutet sein Aufruf zur Skepsis etwas hohl an, wenn ich herangezogene Studien selber lesen will, sie aber erst im Internet recherchieren muss. Ebenso ärgert mich das Fehlen eines Stichwortverzeichnisses. Engagierte Leser wollen vielleicht nochmal in das Buch schauen und suchen etwas Bestimmtes. Das wird hier zur Qual.
Fazit: Dies ist ein Buch für alle, die in irgendeiner Form mit Kreativität und Innovation in ihren Unternehmen zu tun haben. Das sind namentlich besonders Innovationsmanager, Creative Directors und natürlich alle Geschäftsführer und CEOs, die Innovation zum Chefthema gemacht haben oder machen wollen. Voraussetzung: Die Bereitschaft, kreativ über Kreativität nachzudenken.
Ach ja, und noch eins: Rehn prügelt auf alle Bücher und Kreativitätsexperten ein, die uns mit netten Übungen beglücken und kreativ machen wollen. Wer also billige und schnelle Rezepte sucht, sollte die Hände von diesem Buch lassen. Mich hat das jedoch zutiefst erfreut.
Herzliche Grüße
Andreas Zeuch
Rehn, A. (2012): Gefährliche Ideen. Von der Macht des ungehemmten Denkens. Campus. Kartoniertes Paperback, 240 Seiten. 24,99€
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