Die Ökonomie von Gut und Böse.
Liebe Leserin, lieber Leser!
Ich wurde durch einen Freund aufmerksam auf dieses Buch. Ich gebe zu, dass mich der Titel nicht gleich hinter der Couch hervorlockte, deutete er in meiner Wahrnehmung doch reichlich auf ethisch-philosophische Überlegungen, die mir zu weit vom täglichen Wirtschaftshandeln entfernt schienen. Überzeugt hat mich dann aber eine Sendung des Schweizer Fernsehens (siehe weiter unten als YouTube Video), in der Sedláček nicht nur menschlich äußerst sympathisch rüberkommt, sondern auch seine Begeisterung auf mich übertragen konnte.
Eines muss ich vorweg einschränkend schreiben: Keine Rezension, die nicht selbst den Charakter zumindest eines Artikels annimmt, kann letztlich dem Umfang und dem Reichtum dieses Werkes gerecht werden. Aber ein unvollkommener Versuch ist ebenso besser als Nichts, wie eine unexakte Prognose, die sich bestätigt besser ist, als eine exakte, die falsch liegt.
Dieses Buch soll uns daran erinnern, dass die Ökonomie eine Seele hat, die wir nicht verlieren dürfen. Und so ist es eine fundamentale, „postmoderne Kritik der mechanistischen und imperialen Mainstream-Ökonomie…“ (S. 396). Dabei ist Sedláček aber intelligent genug, um nicht die Mathematik in der modernen Ökonomie bekämpfen zu wollen. Er stellt gegen Ende klar, dass Mathematik zwar nützlich aber nicht hinreichend ist, um das jeweils aktuelle Wirtschaftsgeschehen zu begreifen, zu beschreiben und letztlich gar vorherzusagen. Die pseudorationale Reduktion (meine Worte) eines Geschehens auf mathematische Gleichungen, das auch soziologische, psychologische und spirituelle Anteile hat (Animal Spirits!), pervertiert so in ihr Gegenteil: Die rein mathematische Ökonomie stiftet mehr Schaden als Nutzen. Modelle werden nicht mehr an die Wirklichkeit angepasst, sondern die Wirklichkeit wird in die Modelle gepresst (bestes Beispiel: Der Homo oeconomicus).
Und das motiviert Sedláček zu seiner Tour de Force: Er beginnt im ersten Teil mit dem Gilgamesch Epos und arbeitet sich dann Kapitel für Kapitel durch das Alte Testament, das antike Griechenland, das Christentum, Descartes, Mandevilles bis hin zu Adam Smith. Im zweiten Teil, den „Blasphemischen Gedanken“ folgen Untersuchungen der Gier nach immer mehr, des Fortschrittsgedankens, der Achse von Gut und Böse, der Geschichte der unsichtbaren Hand des Marktes, des Homo oeconomicus und der Animal Spirits. Sedláček schließt den zweiten Teil und sein Buch mit Reflexionen über eine Metamathematik und stellt letztlich die Frage, wer die Wahrheit kennt: Wissenschaft, Mythen und Glaube?
Neben all der profunden Kenntnis philosophischer und religiöser Texte, punktet Sedláček mit der Anbindung an neues Kulturgut. Da zählen Zitate von den Rolling Stones und Simon und Garfunkel schon zu den Oldies. Noch frischer wird’s bei Verbindungen zu Romanen von Autoren wie Milan Kundera oder Salman Rushdie und Bezügen zu Kultfilmen wie „Blue Velevet“, „Fight Club“, „Matrix“ oder „Watchmen“ bis hin zu Verweisen auf die International Movie Database (IMDb). Da schreibt kein verstaubter Geisteswissenschaftsprofessor, der als Möchtegern-Betriebs-oder-Volkswirt am liebsten noch mathematisch exakt naturwissenschaftlich rüberkommen will, sondern ein junger Wilder, der im prallen Leben unserer Zeit steht. Alleine das ist schon eine Leistung, die das Lesen lohnt.
Gängige wirtschaftliche Grundannahmen und Themen werden teils wiederlegt, teils differenziert: Da wäre der bekannte Mythos von der unsichtbaren Hand (welch wissenschaftliche Erklärung!), die Eigennutzenmaximierung, der Homo oeconomicus, das Wachstumsparadigma, Zinsen und Zinseszinsen, Schulden und dergleichen mehr.
Nach der Lektüre muss man sich wundern, warum beispielsweise Adam Smith meistens auf sein Werk „Wohstand der Nationen“ und die darin enthaltenen Argumente und Thesen reduziert wird. Sedláček zeigt überzeugend, dass Smith in seiner „Theorie der ethischen Gefühle“ ein gänzlich anderes Bild vom Menschen zeichnet, als gemeinhin behauptet. Da sind wir eben nicht mehr nur eigennützig, sondern mitfühlend.
Ebenso brilliant demontiert Sedláček die ewige ökonomische Kausalkette von Wachstum → Wohlstand → Lebenszufriedenheit, respektive: Glück. Das waren für mich die besten, intensivsten und bewegendsten Seiten. Unsere Bedürfnisse nehmen eben nicht mit dem Wohlstand ab, sondern zu, werden künstlich angefeuert und weiter voran gepeitscht. In Wirklichkeit herrscht in unserer Konsumgesellschaft ein „Mangel an Mangel“. Und die Unterhaltungsindustrie schafft eine „Simulation des Mangels“, neuerdings nicht nur in HD, sondern auch noch in 3D: Die Helden erleben Abenteuer, die den meisten von uns fremd sind. So sitzen wir Couch-Potatoes Chips und Popcorn fressend im Winter im Warmen und schauen zu, wie die Filmfiguren für uns frieren, hungern und kämpfen müssen. Das Wohlstand eben nicht mit positiver Lebensqualität korreliert, wird hier noch mal anders deutlich, als durch die Belege und Argumente von Wilkinson und Picket in ihrem Werk „Gleichheit ist Glück„.
Gegen Ende bringt Sedláček das Problem der modernen Ökonomie mit einer schönen Metapher auf den Punkt: Ein Schachbrett besteht aus 64 schwarz-weißen, klar angeordneten, fixen Feldern. Es gibt klare Regeln, die sich nicht ändern. Sieg ist nur eine Frage der Rechenleistung, weshalb jetzt, da Computer schnell genug sind, kein Schachgroßmeister mehr gegen einen Schachcomputer gewinnen kann (mal abgesehen davon, dass es sich um eine Nullsummen-Spiel handelt, dass für Wirtschaftszwecke vollkommen ungeeignet ist). Wenn Sedláčeks „…Freunde Schach spielen, stellen sie ihre Getränke auf ein Tischchen, das sie das „65. Feld“ nennen. … Schachfelder … können wir gut erklären und analysieren, doch die wichtigsten Dinge ereignen sich auf dem größten Schachfeld, dem 65. Dort sind ja schließlich die Spieler.“ (S. 392). Die Ökonomie hat dieses Feld vergessen und verdrängt, weil es die Berechenbarkeit und Kontrollierbarkeit der anderen Felder permanent torpediert. Unsere Aufgabe der Zukunft liegt darin, das 65. Feld wieder in den Blick zu kriegen. Und uns daran zu erinnern, dass uns Fragen antreiben, nicht Antworten.
Fazit: Ein Buch für all diejenigen, die bereit sind, Zeit in ein gründliches und fundamentales Nachdenken über Wirtschaft zu investieren. Wer tiefer loten will, als das die heutigen Wirtschaftswissenschaften (VWL und BWL) bislang leisten, wer für die Komplexität des 21. Jahrhunderts besser gewappnet und die Poesie der Ökonomie zurückgewinnen will, der wird von Sedláček reich belohnt.
Mein Tipp: Plant Euch zwischen den Jahren ein paar Tage zum Lesen anspruchsvoller Bücher ein. Nicht einmal, sondern als jährlich wiederkehrendes Ritual!
Herzliche Grüße
Andreas Zeuch
Sedláček, T. (2012): Die Ökonomie von Gut und Böse. Hanser. Hardcover mit Schutzumschlag, 448 Seiten. 24,90€
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