Wohlstand ohne Wachstum
Liebe Leserin, lieber Leser!
Schon seit Jahren wundere ich mich: Häufig und regelmäßig gibt’s Nachrichten zu unserem aktuellen Wirtschaftswachstum in Verbindung mit der Hoffnung auf Aufschwung oder der Angst vor einer Rezession. Da werden 1-2% in die eine oder andere Richtung zu einer weltbewegenden Sache. Die Sucht nach Wachstum ist derart stark, dass sogar eine Schrumpfung nicht mehr als solche benannt wird, sondern „Negativwachstum“ getauft wurde – nur um weiterhin von Wachstum sprechen und berichten zu können (Vergleiche meinen Blogpost „Wirtschaftswachstumswahnsinn„, inclusive Umfrage).
Das vor dem Hintergrund, dass jeder Mensch mit einem Restanteil von Großhirnrinde doch kapieren sollte: 1_ Ein Subsystem (Wirtschaft) eines endlichen Systems (Unser Planet) kann nicht endlos wachsen (mein 5 jähriger Sohn kapiert dass, aber keine (neoliberalten) Ökonomen). 2_ Die entwickelten Länder sind fast vollständig gesättigt (weshalb Herr Winterkorn und seine Mannen China so sehr lieben). Die meisten Ökonomen kleben trotzdem weiterhin an der Mär „Ohne Wachstum kein Wohlstand“ wie ein zappelnd zuckendes Insekt am Sonnentau. Das zu ändern und einen öffentlichen Diskurs loszutreten, ist das Ziel von Tim Jacksons Wohlstand ohne Wachstum.
Dieses fulminante und auch fordernde Buch basiert erstens „in weiten Teilen“ auf Tim Jacksons Bericht als Wirtschaftsbeauftragter der britischen Kommission für Nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Commission, SDC, 2009). Zweitens „speist sich das Buch … aus (Jacksons) Funktion als Leiter der Forschungsgruppe Lebensstile, Werte und Umwelt … an der Universität von Surrey.“ (S. 20) Drittens leitete der Autor jahrelang die Arbeitsgruppe „Redefining Prosperity“, was ebenfalls in das Buch miteingeflossen ist. Dieses Werk hat also ein ziemlich stabiles Fundament.
In zwölf Kapiteln über die Strecke von 202 Seiten (239 minus drei (!) Vorworte minus Danksagung minus Literaturverzeichnis, aber einschließlich Anmerkungen 🙂 schreitet Jackson von einer differenzierten Analyse bis hin zu klaren und überzeugenden Lösungsvorschlägen, die in Details noch vieles mehr offen lassen, als Christian Felber in seinem detaillierteren Master-Lösungsplan seiner „Gemeinwohl-Ökonomie„.
Der Autor macht verständlich, warum viele von uns (vielleicht die meisten?) immer noch süchtig nach Wachstum sind: So wie unsere Wirtschaft im Moment konstruiert ist, müssen wir konsumieren, um zu wachsen und müssen wachsen, um erstens Arbeitsplätze zu sichern und zweitens unsere Wirtschaft stabil zu halten. Denn unsere Wirtschaft kennt nur zwei Extreme: Wachstum oder Zusammenbruch. Wenn es nicht aufwärts geht, droht uns nicht nur wirtschaftliches, sondern letztlich auch gesellschaftliches Chaos. Somit sehen sich praktisch alle Regierungen gezwungen, das alt bekannte Wachstum zu fördern, um Stabilität und Sicherheit für die Bürger gewährleisten zu können. Das ist – äußerst verdichtet! – die ökonomische Seite.
Natürlich lotet Jackson viel tiefer, als dieser rudimentäre Zusammenhang. Er analysiert zum Beispiel präzise und faktenreich die Allgegenwärtigkeit und unsere Abhängigkeit vom Bruttoinlandsprodukt und warum diese Messgröße zum Scheitern verurteilt ist, wenn wir eine neue, nachhaltige und humanistische Gesellschaft und Wirtschaft aufbauen wollen. Ebenso untersucht Jackson die Aufgaben des Staates auf der Grundlage des Gesellschaftsvertrages, der auf Hobbes, Montesquieu und Rousseau zurückgeht. Er macht klar, dass wir ein neues, noch viel konsequenteres Regierungsmodell brauchen, um sicherzustellen, dass wir unsere „… Entscheidungen weg von der Gegenwart und zugunsten der Zukunft verschieben.“ (S. 166)
Aber auch damit ist noch nicht Schluss. Jackson dringt tiefer in den Dschungel unserer Probleme vor und nimmt auch unsere psychologische und soziale Verfassung genau unter die Lupe. Auf der Basis entsprechender Untersuchungen zeigt er, wie wir in den Teufelskreis der Konsumgesellschaft gekommen sind und warum es so verdammt schwer ist, dem wieder zu entrinnen. Es ist das, was „… der Konsumforscher Russ Belk „Kathexis“ nennt (in Anlehnung an Freud, AZ), ein Bindungsvorgang, der uns dazu bringt, materiellen Besitz als Teil des erweiterten Selbst zu sehen (und sogar zu empfinden).“ (S. 110) Wir glauben Produkte zu brauchen, um unseren Status zu markieren (Mein Haus…) und unser Selbstwertgefühl zu pimpen. Sobald das Neue Alltag wurde (iPhone, Auto), droht wieder die Angst vor unserer eigenen Leere und so brauchen wir schnell das nächste Neue.
Wo diese Dynamik nicht von allein entsteht, wird Sie durch die Industrie geschürt, indem in immer kürzeren Zyklen neue Produkte auf den Markt geworfen werden, die dann via Marketing aggressiv und zunehmend trickreicher (Neuromarketing) vertrieben werden. Das Ganze verkaufen uns dann die meisten Ökonomen und Unternehmen als „Fortschritt“. Und wer das in Frage stellt, wird als fortschrittsfeindlich an den Pranger gestellt. Es ist das immer gleiche Argument: „Willst Du etwa zurück in die Höhle oder auf den Baum?“
Es handelt sich um genau das Verständnis, was mich persönlich jedes Mal aufs Neue wütend macht: Innovation und Fortschritt wird auf technische Neuerung reduziert. Selbst staatliche Förderprogramme zielen zumeist auf die Entwicklung neuer Technologie. So wird der Innovationsbegriff zu einem stahlharten Traditionalismus. Wir brauchen – das ist hier mein Beitrag – eine Innovation unseres Innovationsbegriffs. Wir brauchen zu der altbekannten technologischen Innovation dringend auch psychologische, soziale und gesellschaftliche Innovation! Nicht umsonst wird in Unternehmen permanent von Produkt-, Prozess- und Geschäftsmodellinnovation gesprochen, aber so gut wie nie über Managementinnovation. Und das, obwohl letztere die effektivsten Fortschritte in zunehmend dynamischeren und unsicheren Märkten bringt.
Der „Weg in ein nachhaltiges Wirtschaftssystem“ ist kurz skizziert und wird dann von Jackson weiter ausdifferenziert. Es gibt drei große Bereiche, in denen wir noch viel vor uns haben:
- „Die Grenzen festsetzen.
- Das Wirtschaftsmodell reparieren (etwas unglücklich formuliert, AZ).
- Die gesellschaftliche Logik verändern.“ (S. 176)
- „Ein struktureller Übergang zu Dienstleistungen;
- Investitionen in ökologisches Vermögen;
- Arbeitszeitpolitik als stabilisierendes Instrument.“ (S. 199)
Jackson erwähnt gegen Ende öfter das Gemeinwohl. Der weitere große Unterschied zu Felbers „Gemeinwohl-Ökonomie“ liegt nun darin, dass Jackson weniger verbieten als überzeugen will: „Aber ich habe entschieden darauf hingewiesen, dass Versuche einer Gruppe, eine andere zum Verzicht auf materiellen Reichtum zu bewegen, moralisch fragwürdig sind. Es ist, als ob man von Menschen verlangte, bestimmte soziale und psychologische Freiheiten aufzugeben. … Es geht darum, den Menschen real die Fähigkeit zu geben, auf weniger materialistische Art zu gedeihen.“ (S. 193) Das macht ihn mir an dieser Stelle nochmals sympathischer als Felber, auch wenn der Weg dadurch wahrscheinlich noch mühsamer wird, als ohnehin.
Es gibt nur Zweierlei, was ich ernsthaft kritisiere: Erstens die Behauptung, „Der Einzelne ist viel zu sehr dem Streben nach Status, den gesellschaftlichen Signalen ausgeliefert, …“ (S. 172) Das stimmt einfach nicht. Fast jeder, der nach unseren europäischen Maßstäben ein einigermaßen versorgtes Leben führt, hat die Freiheit, sich anders zu entscheiden. Das braucht Mut, eine dicke Haut und Ausdauer. Aber es ist möglich. Niemand muss sich immer gleich das neueste iPhone kaufen, alle 2-3 Jahre ein neues Auto zulegen und überhaupt das bescheuerte Schwanzvergleichsspiel „Mein Haus, Mein Auto, Meine Yacht“ mitmachen. Hier glaube ich viel mehr an die Eigenverantwortung, von denen ich mich und meine Mitmenschen nicht freisprechen will. Denn wer sich und andere in diesem Fall der Verantwortung enthebt, führt in die Ohnmacht.
Zweitens gibt es noch einen technischen Mängel in der Ausstattung. Ein Buch, dass jetzt schon zum Standardwerk der Postwachstumsökonomie geworden ist, braucht selbstverständlich ein Stichwortverzeichnis. Das dies fehlt ist wirklich ein Manko und sollte bei der nächsten Auflage dringend nachgereicht werden.
Fazit: Die einzig guten Gründe für jeden Bürger eines Erstweltlandes, dieses Buch nicht zu lesen liegen darin, entweder die Fakten und Argumente schon aus anderen Quellen zu kennen oder sich bereits selbst gemäß einer Postwachstums-Gemeinwohl-Ökonomie zu verhalten (LOVOS – Lifestyle of Voluntary Simplicity). Ersteres dürfte schwer sein, denn Jackson war fleißig, hat viele Primärquellen gründlich durchgearbeitet und ist schließlich selbst einer der wichtigsten Urheber der Datenerhebung und Auswertung zu diesem Thema. Wer sich nicht mit den Zahlen, Zusammenhängen und Konsequenzen beschäftigt, wird sich allerspätestens von unseren Kindern reichlich bohrende Fragen gefallen lassen müssen.
Mein Tipp: Seht’s mal so – keine Zeit (zu lesen) haben wir alle genug. Jeder hat 24 Stunden am Tag. Es gibt nur Prioritäten.
Herzliche Grüße
Andreas Zeuch
Jackson, T. (2011): Wohlstand ohne Wachstum. Leben und Wirtschaften in einer endlichen Welt. oekom Verlag. Gebunden, 239 Seiten. 19,95€
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