Schwarmintelligenz in Unternehmen
Liebe Leserinnen und Leser!
Bislang ist dies das Buch, bei dem ich am längsten überlegt habe, ob ich es rezensiere. Es war ein bewegtes Hin und Her: Erst Begeisterung, dann ein „das darf doch jetzt nicht wahr sein“, Seiten später wieder das Gefühl von „es lohnt sich doch“, gefolgt von „Nein, ich lass es besser“ um letztendlich bei einem „na gut, irgendwie hat es lohnende Seiten“ zu landen. Ihr seht: Dieses Buch, beziehungsweise sein Autor Jochen May bietet Stoff für auseinandergehende Meinungen. Was ja von einer höheren Warte aus gesehen wieder gut ist.
Schon mit meiner Rezension des Buchs →“Kollektive Intelligenz“ wurde eines unzweifelhaft klar: Das Thema gehört unbedingt hierher. Es ist komplex und neu genug, damit Platz für mehrere, wenn nicht sogar viele Bücher darüber ist, ohne redundant zu werden. Der eben erwähnte Herausgeberband über Kollektive Intelligenz hat einen anderen Fokus, als das Buch von Jochen May: Bei Aulinger und Pfeiffer geht es um die Chancen und Risiken, um Erfolge und Misserfolge von Entscheidungs- oder Prognosemärkten, um die gemeinsame Intelligenz nutzbar zu machen. May fokussiert vielmehr auf das Phänomen der Schwarmintelligenz an sich und wie es durch Managementmethoden für Unternehmen nutzbar gemacht werden kann. Dazu macht er auf Seite 59 klar, wann Schwarmintelligenz für Unternehmen vorteilhaft ist:
- Wenn „Entscheidungen auf der Basis von unsicherem Wissen, das heißt aufgrund von Prognosen und Schätzungen getroffen werden müssen;“
- wenn „Fehlentscheidungen, die durch Nichtbeachtung wesentlicher Aspekte, durch übertriebenen Fokus auf bestehende Lösungsansätze oder durch persönliche Vorlieben und Vorurteile entstehen, vermieden werden sollen;“
- wenn „ein hohes Maß an Kreativität und Einfallsreichtum gefordert ist,“
- wenn „Serendipitäts-Effekte eingefangen werden sollen“. (S. 59)
Einer der für mich spannendsten Aspekte sind Transmittoren: Der Schwarm kann sich intelligent an die Umwelt anpassen, aber dafür bedarf es einer Übersetzung der Umweltveränderung bis hin zum einzelnen Individuum. Und genau das leisten die Transmittoren. May stellt dies gelungen dar, indem er die Schwarmprototypen Ameisenstaat, Fisch- und V-Vogelschwarm mit der Situation von Unternehmen vergleicht.
Der Umwelteinfluss einer versiegenden Futterquelle löst bei den Ameisen Hunger aus – der Transmittor um auf neue Futtersuche zu gehen; Fische werden angegriffen, die Furcht davor löst entsprechende Bewegungsreaktionen aus; Vögel erleben auf der Reise als Umwelteinfluss Gegenwind und ermüden, wodurch sie sich an der Spitze der Formation ablösen. Die jeweiligen Transmittoren sind also Hunger, Furcht und Ermüdung. Erst dadurch wird das Schwarmverhalten als Umweltanpassung ausgelöst. Im Unternehmen brauchen Mitarbeiter ebenfalls einen solchen Transmittor – und der wird durch eine interne Kundenorientierung ermöglicht: „Bei konsequenter Kundenorientierung pflanzen sich Signale von Markt und externen Kunden in einer Art Resonanzwelle konsequent bin in jeden Winkel des Unternehmens fort.“ (S. 84).
Wirklich gelungen ist eine fortlaufende Serie von Grafiken des dritten Kapitels, in denen May die eben erwähnten drei Grundtypen natürlicher Schwärme (Ameisen, Fische und Vögel) menschlicher Schwarmintelligenz in Unternehmen bezüglich vielfältiger Aspekte gegenüberstellt. So werden Grundbausteine, verschiedene Integrationsmechanismen und die Selbststeuerung der Schwarmintelligenz schön durchleuchtet.
Ebenso erfreulich ist – im Gegensatz zu einigen anderen in diesem Blog empfohlenen Büchern – ein gutes Stichwortverzeichnis und sogar ein Glossar. Die inhaltliche Ausstattung ist damit durchweg gelungen.
Wie ich eingangs unzweifelhaft klar gemacht habe: Es gibt auch deutliche Kritik an diesem Buch. Das erste Mal zuckte ich innerlich zusammen, als May feststellte, das Strategieentwicklung eindeutig dem üblichen erlauchten Führungskreis zusteht, während die Belegschaft mit ihrer Schwarmintelligenz auf die Zuschauerposition verwiesen wird: „Jede strategische Innovation hängt von den analytischen Fähigkeiten und richtigen Schlussfolgerungen weniger Spezialisten ab, ebenso von deren Durchsetzungsfähigkeit.“ (S. 18). Noch etwas genauer: „Umgekehrt erweisen sich strategische Entscheidungen durch Führung und Spezialistentum in allen Fällen als die überlegene Methode, in den die Komplexität einer Situation so weit reduziert werden kann, dass Ergebnisse kalkulierbar und die Auswirkungen von Entscheidungen vorhersehbar werden.“ (S. 58). Nun, jegliche Entscheidung und insbesondere jede strategische Entscheidung ist immer ein Blick in die Zukunft. Strategien werden nicht für die nächsten zwei überschaubaren Tage geschmiedet, sondern im allgemeinen für die nächsten Jahre. Und da ist die Unnachvollziehbarkeit dieser Sichtweise nicht mehr zu überbieten. Oft genug mahnt May zurecht die Volatilität, die permanente Dynamik der Märkte an, um dann plötzlich gerade bei den komplexesten und weitreichendsten Entscheidungen von erfolgreicher Komplexitätsreduktion auszugehen. Hier krankt die Argumentation gleich dreifach:
- Die Innovation von Strategien gehört mit zu den komplexesten Aufgaben, weil sie am weitesten in die Zukunft reichen und das gesamt Unternehmen betreffen, im Gegensatz zu vereinzelten Produkt- oder Prozessinnovationen durch Schwarmintelligenz.
- Komplexität lässt sich nicht reduzieren. Sie kann nur gemanagt werden. Nur weil die Spezialisten und Top-Führungskräfte die Komplexität nicht mehr vollumfänglich mitbedenken, ist sie nicht aus dem echten Leben verschwunden.
- Neben der erfolgreicheren Informationsverarbeitung durch Schwarmintelligenz inklusive der besseren Nutzung von Zufällen gibt es ein ganz anderes zentrales Argument für die Mitwirkung der Belegschaft bei der Strategieentwicklung: Ihre Motivation. Wenn die Mitarbeiter nämlich eingebunden sind, brauchen die Führung auch keine Durchsetzungskraft mehr. Die ist nur deshalb nötig, weil die neue Strategie häufig gegen den wie auch immer gearteten Widerstand der Mitarbeiter von oben nach unten ausgerollt werden muss.
Warum Jochen May die heilige Kuh der Strategieentwicklung weiterhin dem Top-Management zuschreibt, darüber kann nur spekuliert werden. Schließlich stellt er selbst die Frage ob Nadelstreifenträger Innovations-Versager seien, die er schließlich verneint, obwohl er die Argumente liefert, wie idiotisch und innovationsfeindlich Bürokratiemodelle, streng hierarchisches Management und verlogenes Vorschlagswesen sind. Hier fehlt mir der nötige Klartext. Das wird nochmals in dem Moment deutlich, wenn May erklärt, dass Funktionsroutinen dann zu befolgen sind, wenn sie zum erwünschten Erfolg führen. „Andernfalls besteht nicht nur das Recht, sondern sogar die Pflicht zur Innovation, um Abhilfe zu schaffen.“ (S. 78). Damit gibt es eben wieder mal keine Freiheit für die Mitarbeiter, sondern nur Pflichten. Regeln müssen befolgt oder gebrochen werden. Abgesehen davon finden Innovationen auch unabhängig davon statt, ob Funktionsroutinen erfolgreich sind oder nicht.
Die Strukturierung des Buches ist sehr kleingliedrig. Auf jeder Seite gibt es mindestens eine Überschrift, meistens zwei und manchmal sogar drei. Auf diese Weise kam bei mir kein wirklicher Lesefluss auf.
Letztlich stört mein ästhetischen Empfinden ein etwas altbackener und manches Mal penetrant redundanter Schreibstil: „Mutter Natur“ und „König Zufall“ sprangen mir gefühlt von jeder zweiten Seite ins Gesicht, ebenso wie inflationär gebrauchte Ausrufezeichen. Betreffs der letzten beiden Punkte scheint das Lektorat nicht wirklich funktioniert zu haben.
Fazit: Trotz der kritischen Aspekte lohnt das Buch für all diejenigen, die an den Nutzen der Schwarmintelligenz im professionellen Umfeld glauben; es lohnt für all diejenigen, die die grundlegende Funktionsweise von Schwarmintelligenz verstehen wollen und wie sie auf Unternehmen übertragen werden kann. Last but not least ist es eine gute Ergänzung zu Aulingers und Pfeiffers →“Kollektive Intelligenz„.
Herzliche Grüße
Andreas Zeuch
May, J (2011): Schwarmintelligenz in Unternehmen. wie sich vernetzte Intelligenz für Innovation und permanente Erneuerung nutzen lässt. Publicis. Gebunden, 257 Seiten. 34,90€
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