Nextopia

Liebe Leserinnen und Leser!

Wollt Ihr die kürzeste Zusammenfassung eines Buches lesen, die mir je gelungen ist? Hier ist sie:

„Vorfreude ist die schönste Freude.“ Punkt.
Nichtsdestotrotz lohnt die Lektüre der 244 Seiten, nicht nur weil sie sich so leicht und fluffig lesen, wie sich ein Marshmallow anfühlt. Sondern weil Micael Dahlén die Selbstreflexion unseres Verhaltens anregt (zumindest bei mir) und eine zentrale Strategie zur Vermarktung von Unternehmen nahelegt. Beides erscheint mir ein ausreichender Return on Investment, das Geld und die Zeit des Lesens aufzubringen.

Die Welt dreht sich immer schneller. Produktzyklen beschleunigen sich und damit die Arbeitszyklen. Wo früher etwas für ein Leben gebaut wurde, investieren heute viele Firmen eher in die gezielt gesteuerte Vergänglichkeit ihrer Produkte kurz nach dem Ablauf der Garantiezeit (was somit tatsächlich Strategie ist und nicht bloß verzerrte subjektive Wahrnehmung). Der Fachausdruck lautet „Obsoleszenz“ und einer der Dienstleister, die dafür sorgen, dass ein Gerät pünktlich seinen Geist aufgibt, ist das Frauenhofer-Institut für Zuverlässigkeit und Mikrointegration, IZM. Der Konsum wird dadurch angeheizt, jährlich muss der iPod oder das Galaxy ausgetauscht werden. Kaum ist HD Fernsehen da, kommt 3D und weil das nicht richtig zieht, erfindet man schnell Ultra HD. Schließlich langweilen wir uns sonst und das Wachstum der Produzenten würde unerhörterweise stagnieren.

So ergibt sich im gegenseitigen Spiel von Produzenten und Konsumenten die Erwartungsgesellschaft: Welcome to Nextopia! Hier ist das nächste Smartphone das Beste, der nächste Job, das nächste Date, das nächste Was-auch-immer. Wir sind völlig losgelöst vom Hier und Jetzt, leben natürlich nicht mehr in der Vergangenheit, sondern in der Zukunft. Dort richten wir uns dauerhaft ein, denn dort ist alles besser als heute, sogar unsere eigene Leistung. Amüsanterweise verlieren damit alle Produkte, Dienstleistungen und Erlebnisse der Gegenwart in Erwartung auf die unbedingt bessere Zukunft an Wert. Womit wir einen gigantischen Motor für unsere Wegschmeiß- und Konsumgesellschaft identifiziert hätten.

Wirklich spannend ist ein Ergebnis zur Selbsteinschätzung unseres Glücksempfindens, das aus einer Untersuchung des Autors selbst entstammt: Der Tiefpunkt unseres Glücks liegt interessanterweise immer im Hier und Jetzt. Die Vergangenheit war rosiger und nimmt in Ihrem Glanz zu, je weiter sie in die Ferne rückt. Die Zukunft hat ebenfalls mehr zu bieten und je weiter wir in unserer Vorstellung in ferne Tage reisen, desto besser stellen wir uns unser Leben dort vor. Das zumindest legt das statistische Mittel nahe. Aber immerhin hat Dahlén mehrere hundert Personen untersucht. Zumindest wird auf diesem Wege klar: Im Hier und jetzt genauso viel Glück zu empfinden wie in der Vergangenheit oder Zukunft scheint eine ausgesprochen selten anzutreffende Eigenschaft zu sein.

Dahlén kurz über Nextopia

Angeblich sind wir süchtig nach Veränderungen – was ein Experiment mit dem Verzehr von Gelbonbonbs beweisen soll. Kinder und Erwachsene verspeisen deutlich mehr von dem Zuckerkram, wenn die verschieden farbigen Bonbons nicht einfach wild durcheinander rumliegen, sondern in Farben sortiert kredenzt werden. Da frag ich mich nur: Wie kommt es zur Macht der Gewohnheit? Wieso dieses ungeheure Maß an Systemerhaltung bei Change Prozessen in Organisationen? Warum fällt es uns, wenn wir so süchtig nach Veränderungen sind, eigentlich so schwer, etwas an uns und unserem Verhalten zu ändern? Also scheint es ziemlich verschiedene Formen von Veränderung zu geben. Und das reflektiert der Autor leider nicht.

Am Ende wird Dahlén bedauerlicherweise äußerst skurril, weil er ganz offensichtlich seine Kompetenz überschreitet. Er postuliert eine ewige, unumstößliche Wahrheit: Wir Menschen sind aufgrund unserer genetischen Veranlagung bis ans Ende aller Tage so gestrickt, dass wir erstens ständig etwas Neues brauchen (Gadgets, Beziehungen, Reisen…) und die Zukunft (auch deshalb) immer rosiger ist, als das Hier und Jetzt oder die Vergangenheit.
Dabei übersieht der Autor offensichtlich Dreierlei:

  1. Es gibt genügend Ausnahmen, die zeigen, dass eben nicht alle Menschen diesem Mechanismus unterliegen. Handelt es sich da um Mutationen, um kranke Menschen mit Gendefekten? Wohl kaum. Vielmehr kann sich jeder von uns von dem treffend beschriebenen Erleben und Verhalten lösen. Besser gesagt: Befreien.
  2. Zunehmend mehr wird klar, dass scheinbar genetische Prädispositionen weniger zu einem bestimmten Verhalten beitragen, als bisher angenommen. Statt dessen wird die Bedeutung sozialer Ansteckung immer deutlicher: Dicke sind in guter Gesellschaft anderer Dicker, Computerspielsüchtige dito und so weiter.
  3. Wir wissen über die Steuerung des Verhaltens via Gene eigentlich noch fast gar nichts, wie das Rupert Sheldrake in seinem Buch →“Wissenschaftswahn“ hervorragend gezeigt hat.

Besonders lustig ist, dass Dahlén sich selbst widerspricht, denn noch auf derselben Seite seiner Hobbygenetikthese schreibt er: „Solange Menschen weiterleben, die neue Dates, neue berufliche Projekte, neue Gelegenheiten, Produkte und Dienstleistungen als Wege zum Glück betrachten – also nach Nextopia blicken –, wird sich die Entwicklung fortsetzen.“ (S. 195). Also ist es eine Frage der „Betrachtung“, sprich: der inneren Einstellung, worin tiefes Wohlbefinden wurzelt. Würde sich das ändern, würde sich die Entwicklung nicht mehr fortsetzten. Und Einstellungen kann man durchaus willentlich beeinflussen. Das hat dann etwas mit Erkenntnis, Einsicht, Selbstreflexion und Lernen zu tun. Auch wenn’s schwer fällt. Möglich ist es allemal.
Etwas nervtötend ist schlussendlich die penetrante Erfindung von Wortneuschöpfungen, „Nextopia“ ist nur der müde Anfang: Expectity, Trailorismus, Nextpansion, um nur ein paar zu nennen.

Fazit: Für alle, die einen guten Überblick und Einblick in die Macht menschlicher Erwartungshaltung bekommen wollen, lohnt sich die Lektüre uneingeschränkt. Damit ist das Buch vor allem für Marketingspezialisten, Vertriebler und Einzelunternehmer wertvoll, die sich selbst verkaufen müssen. Darüber hinaus empfehle ich es allen Wissbegierigen, denn die beeindruckende Sammlung an Studien macht einfach Spaß.

Herzliche Grüße
Andreas Zeuch

Dahlén, M. (2013):  Nextopia. Freu Dich auf die Zukunft – Du wirst Ihr nicht entkommen. Campus. Gebunden, 244 Seiten. 19,99 €

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