Haltung entscheidet.

Vor einer Weile meldete sich Martin Permantier bei mir, Inhaber und Geschäftsführer der Short-Cuts GmbH in Berlin. Er hatte ein neues Buch geschrieben, dessen Titel mich unmittelbar ansprach: Haltung entscheidet. Also bat ich ihn, mir ein Rezensionsexemplar zukommen zu lassen – um dann festzustellen, dass ich mir unter dem Titel etwas anderes vorgestellt hatte, als ein Reifegradmodell durch verschiedene organisationale Dimensionen zu deklinieren. Entgegen meiner anfänglichen Skepsis  gibt’s nun diese Rezension.

Wer mich kennt weiß: Ich finde es schon problematisch, einzelne Personen mit einem beliebigen Reifegradmodell zu beschreiben. Sofern meine Zweifel bereits auf individueller Ebene berechtigt sind, ist es noch viel fraglicher, ganze Organisationen, die nicht nur aus ein paar Menschen sondern aus mehreren Hundert oder gar Tausenden von Menschen bestehen, in ein Reifegradmodell zu pressen. Einige meiner Gründe dafür führte ich in dem Artikel „Ist Selbstorganisation eine Frage der Reife“ aus.

Und nun lag mir das neue Buch von Martin vor. Das änderte zwar nicht mein kritisches Verhältnis zum Begriff der Reife und zu ihrer Modellierung. Aber Martins Umgang mit dem Thema überzeugte mich, dieses Buch hier doch vorzustellen. Denn für all jene, für die es hilfreich ist, mit diesem Begriff und einem damit verbundenen Modell zu arbeiten, stellt Martins Buch eine reichhaltige Fundgrube dar.

Gleich zu Beginn erläutert Martin, was er überhaupt unter „Haltung“ versteht. Im Kern lässt sich sein Begriffsverständnis aus meiner Sicht solchermaßen eindampfen:

Haltung ist die durch Werte und Moral begrenzte Gesinnung bzw. Denkweise eines Menschen, die den Handlungen, Zielsetzungen, Aussagen und Urteilen des Menschen zugrunde liegt. (S. 13)

Mit dieser begrifflichen Grundlage lädt Martin seine Leser*innen zu der Reise durch sein Modell der sechs Haltungen und dessen Bedeutung für diverse wichtige Aspekte der Unternehmensführung und -gestaltung. Wobei er gleich zu Beginn klarstellt, dass niemand die bald 400 Seiten artig chronologisch von vorn bis hinten durcharbeiten muss. Statt dessen ist (über)springen kein Problem und oft reicht ein Blick auf die vielen Grafiken, die so Manches gut verdichten und schnell erfassbar machen.

Das Modell der sechs Haltungen

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Martin stellt sein Modell in die Linie großer, bekannter Reifegrad- und Entwicklungsmodelle, sowohl hinsichtlich individualpsychologischer als auch organisationaler Aspekte: Abraham Maslow (Bedürfnisse), Erik H. Erikson (Psychosoziale Entwicklung), Jean Piaget (Kognition), Jane Loevinger, Susanne Cook-Greuter und Thomas Binder (Ich-Entwicklung), Clare W. Graves (Werte), Ken Wilber (integraler Ansatz), Don Edward Beck (Spiral Dynamics), Frederic Laloux (Reinventing Organizations). Nachdem er diese Modelle kurz vorgestellt hat, kommt er zu seiner Version.

Die Haltungen seines Modells umfassen sechs verschiedene Entwicklungsstufen: Selbstorientiert-impulsiv, gemeinschaftsbestimmt-konformistisch, rationalistisch-funktional, eigenbestimmt-souverän, relativierend-individualistisch und systemisch-autonom. Die Bezeichnungen beschreiben die Haltungen gut, ich konnte und kann mir unter diesen Titeln schnell vorstellen, was gemeint ist und wie ein Verhalten aussieht, das wir den entsprechenden Kategorien zuordnen würden.

Glücklicherweise stellt Martin schon vorab klar:

In unterschiedlichen Rollen können wir unterschiedliche Haltungen und Reifegrade entwickelt haben. Meist bildet eine bestimmte Haltung den Schwerpunkt in unserer aktuellen Wirklichkeitsinterpretation. (S. 53)

Genau das ist zentral: Aus psychotherapeutischer Sicht mit entsprechenden Erfahrungen in unterschiedlichsten klinischen Kontexten (Krebsklinik, Psychiatrie, Psychosomatik, Strafvollzug) kann ich nur feststellen: So gut wie niemand ist monolithisch auf einer Entwicklungsstufe festbetoniert. Die meisten von uns sind abhängig von Rollen, wie Martin es formuliert, und Kontexten, wie ich ergänzen möchte, mal mit der einen Haltung, mal mit der anderen unterwegs. Und wenn sie sich nicht so deutlich in verschiedenen Haltungen manifestieren, so doch zumindest in unterschiedlichen Ausprägungen einer Haltung. Ergo gilt dasselbe für Organisationen, die ihrerseits aus einer Vielzahl von Menschen bestehen und schon deshalb niemals eine einzige Haltung repräsentieren können.

Die sechs Haltungen in der organisationalen Praxis

Martin Permantier

Und was fängt mensch nun mit diesen verschiedenen Haltungen im Unternehmen an? Das wohl Naheliegendste wäre, das Modell bei der Einstellung neuer Mitarbeiter*innen zu nutzen, auf das ein möglichst heterogenes Team entsteht. Aber welchen Nutzen hat es so wie all die anderen Modelle darüber hinaus? Ist es ein Diagnoseinstrument, um den potentiellen Erfolg einer avisierten Transformation einschätzen zu können? Ermöglicht es ein Matching für B2B Prozesse, um zu wissen, welche Geschäftspartner am besten zu einem passen? Oder an welche Endkunden sich das Unternehmen eigentlich wenden will? Hier beginnt die Fleißarbeit. Martin hat sich durch verschiedene Anwendungsgebiete gearbeitet und präsentiert sie seinen Leser*innen zur Reflexion und möglichen Anwendung.

Im sechsten Kapitel beginnt er mit dem Zusammenhang zwischen unserem Weltbild, dem Führungsverhalten und den daraus resultierenden Organisationsstrukturen – denn „die Haltungen der Führung prägen die Organisationsstrukturen“ (S. 132). Dem stimme ich voll und ganz zu. Genau das ist auch der Grund, warum Transformationen immer – IMMER – auch authentisch vom Topmanagement gewollt sein müssen. Und zwar mit allen Konsequenzen für diese oberste Führungsebene. Solange die Geschäftsführerin oder der Vorstand nicht bereit sind, sich hinsichtlich einer Transformation selbst kritisch zu reflektieren und auch zu verändern, solange bleibt das Ganze eine Farce, Alibiveranstaltung oder was auch immer. Erfolgreich wird sie jedenfalls niemals werden.

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Im nächsten Kapitel, „die evolutionäre Denkweise“ untersucht Martin den Übergang von einer Haltung in die nächste im Rahmen der Arbeitswelt. Dabei stellt er wiederum fest, dass wir unsere Haltungen im Alltag ständig wechseln. Insofern liegt die interessante Frage weniger im Wechsel, als vielmehr in der fortlaufenden Entwicklung hin zu den jeweils umfassenderen Entwicklungsstufen. Dazu ist es natürlich erst einmal nötig, „die eigene Haltung (zu) erkennen“ (Kapitel Sieben). Über die konzeptuelle Reflexion hinaus bietet der Autor ein umfassendes Set von Satzergänzungen zu 12 verschiedenen Aspekten täglicher Arbeit, um die eigene Haltung erkennen zu können. Das sind beispielhaft „Die Aufgabe einer Führungskraft ist…, wenn Mitarbeiter hilflos sind…, andere zu führen…, wenn ich kritisiert werde… “

Nachdem wir erkannt haben, in welchen Bereichen wir mit welcher Haltung unterwegs sind, können wir den nächsten Schritt gehen, und uns auf den Weg der Selbstentwicklung begeben (Kapitel Neun). Die ordnet Martin in die vier Bereiche Selbstbewusstheit (sehr schön, ist viel weniger missverständlich als SelbstbewusstSEIN), Selbstverantwortung, Selbstvertrauen und Selbstüberwindung. Folgerichtig beleuchtet Martin die vier Bereiche der Selbstentwicklung „im Licht der sechs Haltungen“. In den weiteren Kapiteln folgt der Zusammenhang von Haltung und Team- sowie Wertentwicklung. Das Buch wird abgerundet durch eine Reflexion der kulturhistorischen Entwicklung, Haltungen in der jüngeren deutschen Geschichte und den vier Entwicklungsperspektiven basierend auf der integralen Theorie Ken Wilbers, die die organisationale Perspektive abbilden.

Fazit: Ein Buch für alle, die an sich arbeiten wollen, an und mit ihrem oder anderen Teams und natürlich an Organisationen. Wer eine differenzierte Sicht über Entwicklungs- und Reifegradmodelle erhalten möchte, ist mit diesem Buch sehr gut bedient. Und es ist obendrein schön anzusehen, mit vielen Grafiken reich bebildert und hilfreich illustriert.

Das Poster „Haltung entscheidet“ ist hier kostenfrei erhältlich!

 

Herzliche Grüße

Andreas

 

Permantier, M. (2019): Haltung entscheidet. Führung und Unternehmenskultur zukunftsfähig gestalten. Vahlen. 373 Seiten, gebunden, Hardcover, 34,90 (Kindle 29,99)

 

Bildnachweis

  • Alle Bilder: ©Short Cuts, Nutzung mit freundlicher Genehmigung
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