Haupt- und Nebenwirkungen

Liebe Leserinnen und Leser!

Der Verlag Antje Kunstmann hat wieder einen Volltreffer gelandet. Die Auslieferung von „Haupt- und Nebenwirkungen. Zur Katastrophe des Gesundheits- und Sozialsystems“ hat begonnen. Als ich in der Vorschau die Ankündigung gelesen hatte, ahnte ich Böses. Und es wurde bei weitem übertroffen. Was Gabriele Goettle für die Erstellung ihres Buches zu Tage födert, geht uns fast alle an. Die hingegen, die so ca. über € 1.000.000,- jährlich netto verdienen, müssen das Buch wohl eher fürchten. Denn kurz gesagt, gewissermaßen als höchstmögliche Verdichtung, lautet eine Botschaft des Buches: Wenn wir als Gesellschaft nicht Gefahr laufen wollen, an dem weiter auseinander klaffenden Spagat aus Arm und Reich zu zerreißen, dann müssen wir beginnen, Gelder wieder zurück zu verteilen (keineswegs „umzuverteilen“). Wir reden dabei über Summen, die ich mir nicht im entferntesten vorgestellt habe. Und das als jemand, der Dank all der hier vorgestellten Bücher mittlerweile kapiert hat, dass einiges gewaltig schief läuft. Die Gute Nachricht in all dem Schlamassel: Selbst so lange gepflegte und mit gewaltigem Aufwand inszenierte Phänomene wie der Demographische Wandel sind Konstruktionen, die nur wenig mit unserer tatsächlichen Wirklichkeit zu tun haben.

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Gabriele Goettle widmet sich in ihrem Buch zwei der wichtigsten Bestandteile unseres gesellschaftlichen Fundaments: Unser Gesundheits und Sozialsystem. Aus beiden Bereichen hören wir seit Jahren immer wieder Schreckensmeldungen und müssen alle – so der politische Einheitsbrei – den Gürtel enger schnallen. Denn schließlich sei infolge des Demographischen Wandels nicht mehr genug Geld da, um unsere Gesundheit, Arbeitslosenabsicherungen und Renten über den Solidarvertrag zu finanzieren. Wer das nur lange genug gehört oder gelesen hat, glaubt es. Ich selbst war einmal im Bereich des Demographischen Wandels tätig, weil ich ihn für eine echte Bedrohung gehalten hatte. Bis zur Lektüre von Haupt- und Nebenwirkungen.

Goettle hat mit insgesamt 17 Menschen über die verschiedenen Aspekte des Themas gesprochen. An den Anfang eines jeden Kapitels stellt sie einen kurzen Lebenslauf der Gesprächspartner, die es besser nachvollziehbar machen, wie es zu der Perspektive und Meinung der Gesprächspartner kommt. Die Interviews montiert sie so, dass kein banales Frage- Antwortspiel entsteht. Die Gesprächspartner bekommen vielmehr Raum, ausführlich zu berichten. Manchmal entsteht so fast der Eindruck eines Monologs oder Vortrags.

Die Reise beginnt Goettle in Berlin bei Lobbycontrol. Dort trifft sie Timo Lange, den Leiter des Berliner Büros. Schnell wird das Ausmaß der Manipulation zugunsten der verschiedenen Branchen deutlich. So wird beispielsweise „das Gesundheitsministerium von mehr als 400 Lobbygruppen „beraten“, die alle auf den 260 Milliarden schweren Gesundheitsmarkt aus sind.“ (S. 8). Grundsätzlich folgen aus dem privilegierten Zugang der Lobbyisten zu den Abgeordneten zwei Hauptforderungen: Die Registrierungspflicht für Lobbyisten, um endlich Transparenz zu schaffen, welche Unternehmen eigentlich wieviel Geld in Lobbyarbeit stecken und wohin genau das Geld fließt. Zweitens die Eingrenzung des „Drehtüreffekts“: Bislang können Politiker ohne Karenzzeit einfach von der Politik in die Wirtschaft wechseln, wo sie natürlich als Lobbyisten gerne genommen werden. Dies sollte in einer Demokratie, die das Gemeinwohl an erster Stelle sieht, so nicht möglich sein. Darüber hinaus kommen schon im ersten Kapitel haarsträubende Fakten ans Tageslicht: So hat beispielsweise Professor Joachim Schwalbach für die Energieindustrie Gefälligkeitsgutachten erstellt. Das ist deshalb besonders zynisch, weil er sich an der Humboldt-Universität in Berlin für den „Ehrbaren Kaufmann“ engagiert. Das Gesetzentwürfe von Anwaltskanzleien stammen, die Teil des Lobbyfilzes sind, ist den Aufgeklärten unter uns leider schon bekannt. Was die Sache natürlich nicht besser macht.

Die nächste Station führt Goettle zu Dr. med. Peter Tinnemann, dem Leiter des Bereichs Internationale Gesundheitswissenschaften am Institut für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitsökonomie der Berliner Charité. Mit ihm spricht sie über die Probleme, die für uns Endverbraucher entstehen, weil die Pharmaindustrie mal eben mehr als das Doppelte von dem in die Werbung investiert, was sie für Forschung und Entwicklung ausgibt – und auf diesem Wege Ärzte permanent manipuliert. Tinnemann hat viel Erfahrung gesammelt und kann internationale Vergleiche anstellen: In England bietet beispielsweise das National Health System (NHS) eine deutlich bessere Versorgung als unser Gesundheitssystem. Was einfach daran liegt, dass dieses System über Steuern finanziert wird, keine Krankenkassen existieren (und erst Recht keine Kassenärztliche Vereinigung wie bei uns, die den Verwaltungswasserkopft nochmals überflüssig aufbläht) und vor allem: „Die Regierung verhandelt direkt mit der Pharmaindustrie und entscheidet in der Konsequenz, was Medikamente eigentlich kosten dürfen.“ (S. 24) Das Deutsche Gesundheitssystem fokussiert zunehmend mehr auf die Renditeerwartungen der Aktionäre, anstatt das Wohl der PatientInnen ins Zentrum ihres Handels zu stellen. Dies wird bereits von Medizinstudenten gar nicht mehr wahrgenommen, das System ist derart perfekt gestaltet, dass kaum ein Arzt, geschweige denn Student auf die Idee kommt, dass es auch anders gehen könnte, wie beispielsweise in England. Tinnemann arbeitet mit Kollegen bereis an Lösungen, die im Studium durch Aufklärung beginnen und später in der Praxis weitergeführt werden; ergänzt durch alternative Fachzeitschriften, die ohne Pharmawerbung auskommen.

Ähnlich unangenehm geht es weiter. Es wird deutlich, dass eine Institution wie die Kassenärztliche Vereinigung (KV) weltweit nirgends außer in Deutschland existiert, dass sie 1931 gegründet wurde in im NS-Deutschland starke Verflechtungen mit dem NS-Herrschafts- und Gesundheitssystem hatte und heute vor allem die Macht des Verteilens genießt – denn die Krankenkassen zahlen das Geld an die KV, die dann die Milliarden überflüssigerweise verteilt. Nicht minder fragwürdig sind die privatwirtschaftlichen Interessen der Krankenkassen, die GmbHs gründen und Gewinne erzielen. Und zwar ohne dass transparent wäre, was eigentlich mit diesen Gewinnen passiert. Schließlich müssten diese Gewinne den Krankenkassenmitgliedern in irgendeiner Form zugute kommen. Desweiteren kennen Krankenkassen teils formal existierende Krankheitsbilder nicht und weigern sich, den Versicherten entsprechende Behandlungen zu zahlen und kommen dem erst nach, wenn mutige Ärzte mit medialer Veröffentlichung drohen.

Im anderen großen Bereich, dem Sozialsystem, macht Goettle klar, wie das soziale Ehrenamt als kostenlose Ressource missbraucht wird, wie Rechentricks bei der Rentengesetzgebung seit Jahrzehnten zur Umschichtung gigantischer Beträge geführt haben, wie ein Zweiklassensystem enstand (Rentner versus Pensionäre), oder wie systematisch – zum Beispiel durch die Initiative Soziale Marktwirtschaft – das Schreckgespenst des demographischen Wandels inszeniert wird. Schließlich gab es ähnliche Entwicklungen bereits 1870 und „1953 befürchtete Konrad Adenauer sogar unser Aussterben“ (S. 245) Nichts davon hat sich bewahrheitet, im Gegenteil: Die Lage ist seit dem für viele Menschen besser geworden. Zudem werden (bewusst?) grobe Fehler bei den Berechnungen gemacht, indem beispielsweise die Produktivitätsentwicklung nicht in die Berechnungen miteinbezogen werden. Müssten sie aber, denn durch die massiv gesteigerte Produktivität ist es durchaus möglich, dass weniger arbeitende Menschen Rentner und Pensionäre mitfinanzieren (→“Lügen mit Zahlen„). Last not least wird deutlich, dass der demographische Wandel massiv interessengeleitet ist. Denn nur durch diese angebliche Entwicklung wurde es möglich, staatliche Rentenversorgungen zu privatisieren. Und am Ende sind Politiker wie Riester oder Rürup nach ihrem politischen Amt in die gleich passende Wirtschaft gewechselt: Riester wurde Aufsichtsrat bei Union Investment, dem größten Anbieter von Riester Renten und Rürup wurde Chefökonom bei beim Finanzdienstleister Maschmeyer, die massiv von der privaten Altersvorsorge profitierten.

Fazit: Eines der wichtigsten Bücher der letzten Jahre für alle aufgeklärten Deutschen. Für diejenigen, die die Zusammenhänge zwischen unserem Gesundheits- und Sozialsystem und unserer Wirtschaft besser durchschauen wollen.

Herzliche Grüße

Andreas Zeuch

Goettle, G. (2014): Haupt- und Nebenwirkungen. Zur Katastrophe des Gesundheits- und Sozialsystems. Kunstmann. Hardcover, 250 Seiten. € 19,95

 

 

 

 

 

2 Kommentare
  1. Katrin Weible
    Katrin Weible sagte:

    Lieber Herr Zeuch,
    vielen Dank für die ausführliche Rezension! Sie hat eindeutig mein Interesse geweckt.
    Eine Stelle hat mich recht überrascht bis irritiert, und dazu möchte ich gerne was loswerden. Und zwar beziehe ich mich auf den Abschnitt zum Arzt Tinnemann. Laut Ihrer Rezension stellt die Autorin das englische Krankensystem NHS (National Health Service, nicht „System“) als das ultimative Krankenversorgungssystem dar (so klingt es jedenfalls in Ihrer Beschreibung). Dabei ist die Versorgung in diesem System nicht immer gewährleistet und in der Qualität nicht mit unseren gesetzlichen Leistungen zu vergleichen! Ich wusste das schon bevor ich nach England fuhr (weshalb ich eine private Zusatzversicherung für den Zeitraum abschloss), doch ich konnte mir bei ein paar Gelegenheiten u. Vorfällen selbst ein Bild davon machen. Um nur ein (dafür plakatives) Beispiel zu nennen: Es wird immer wieder in Infoflyern u. in Arztpraxen darauf hingewiesen, dass der Krankenwagen nur im äußersten Notfall zu rufen ist u. wenn alle anderen möglichen Wege ausgeschöpft wurden. Mit meinem deutschen Standard als Hintergrund habe ich die Ambulanz dennoch einmal gerufen, weil ich die Verantwortung nicht mehr tragen wollte für meinen Besuch, der eine übelste Nahrungsmittelvergiftung durch Meeresfrüchte erlitten hatte u. dem es am Ende einer unglaublichen Nacht immer schlechter ging. Im Krankenhaus hat man ihn dann wieder nach Hause geschickt, obwohl seine Situation immer noch nicht besser war. Die Begründung war, dass sein Zustand noch nicht lebensbedrohlich sei – !! Dafür hat man ihm ein Rezept (!) mitgegeben für eine Packung Elektrolyse-Beutelchen. – Kein weiterer Kommentar.
    Abgesehen von den niedrigeren Leistungsstandards ist bekannt, dass der NHS in großen finanziellen Schwierigkeiten steckt, u. darüber u. über mögliche Lösungen gibt es in GB derzeit heftige Diskussionen. Natürlich wird auch immer wieder die Idee ins Spiel gebracht, den NHS bzw. bestimmte Leistungen zu privatisieren. Diese Idee findet aber (immer noch) keine große Zustimmung.
    Sollte die Autorin tatsächlich den NHS so unkritisch darstellen, dann stellt sich für mich ehrlich gesagt die Frage nach der Qualität ihres gesamten Buches. Sicher laufen viele Dinge hierzulande gehörig schief u. sind verbesserungswürdig. Doch vor dem Hintergrund dieser einseitigen Darstellung des NHS weiß ich nicht, wieviel Glaubwürdigkeit ich der Autorin hier schenken könnte.
    Auch wenn ich dieses Mal kritisch war: Ich freue mich auf weitere interessante Rezensionen von Ihnen!

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  1. […] Citizen Science ist ein Stück Aufklärung: “Sapere aude!” – die Kantsche Forderung, sich des eigenen Verstandes zu bedienen, wird hier in vielen Zügen verwirklicht. Ein gutes Beispiel dafür ist der Ingenieur Dr. Horst Morgan, der ein “krasses Fehlurteil des Bundesverfassungsgerichtes” in jahrelanger Arbeit aufgedeckt hat (dazu →”Haupt- und Nebenwirkungen“). […]

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