Der Informationscrash

Liebe Leserinnen und Leser!

Im Jahr 2007 hatte ich den Sammelband „Management von Nichtwissen in Unternehmen“ herausgegeben. Seit dem hat sich in einer Hinsicht nicht viel geändert: Das Thema ist für die meisten Menschen, Unternehmer, Geschäftsführer, Vorstände, kurz: Führungskräfte immer noch ausgesprochen abstrakt. Es ist für diesen Personenkreis in der subjektiven Wahrnehmung dadurch immer noch unwichtig. Dabei ist ausgesprochen offensichtlich, dass wir zunehmend Schwierigkeiten haben, wichtige von unwichtigen Informationen zu unterscheiden, um auf diese Weise bedeutsames Wissen zu erlangen; gleichzeitig ist es häufig schwierig, für die eigene Tätigkeit überhaupt wichtige Daten und damit Informationen zu erhalten. Der Professor für allgemeine und internationale Betriebswirtschaftslehre Max Otte, hatte sich zwei Jahre später, 2009, diesem sehr wohl unternehmerisch bedeutsamen Thema, mit seinem Buch „Der Informationscrash“ gewidmet.

Angeblich leben wir in einer Wissens- oder Informationsgesellschaft. Ich kann aktuell (08.07.2013) innerhalb von 0,27 Sekunden 7.820.000 Treffer zum Begriff „Nichtwissen“ googlen. Das scheint nicht nur beeindruckend, es ist es auch. Sofort wird damit aber auch ein gewaltiges Problem deutlich: Wie soll ich wiederum in dieser unendlich wirkenden Menge von Treffern diejenigen herausdestillieren, die für mich wertvoll sind? Abgesehen davon, dass andere Suchende zum Teil völlig andere Ergebnisse erhalten würden (Stichwort: Personalisierung), gibt es für uns als Endverbraucher und Unternehmen noch eine Menge anderer Schwierigkeiten. Mithin: Aktive Verschleierungen von Informationen, die das eigene Verhalten massiv zum eigenen Nachteil manipulieren.

Als kurze Einführung und grober Überblick mag folgende Auflistung dienen:

  • Lebensmittelhersteller nutzen rechtliche Grau- oder Randzonen, um uns Verbraucher bewusst in die Irre zu führen. Häufig sind Angaben zu Inhaltsstoffen unleserlich klein oder durch schlechte Kontraste nicht zu entziffern. Oder Produkte werden so beworben, dass der Eindruck entsteht, sie wären in besonderem Maße gesund, obwohl eher das Gegenteil der Fall ist.
  • Rechte, die Endkunden haben, werden aktiv verschleiert. So antworteten die Postbank, Dresdner Bank und Commerzbank auf eine Journalistenanfrage, welche Folgen es hätte, wenn mittels Lastschrift Geldbeträge ohne schriftliche Ermächtigung abgebucht werden, schlicht falsch. Sie gaben eine sechs wöchige Widerspruchsfrist an, obwohl es diese zeitliche Beschränkung im genannten Fall nicht gibt.
  • Telekommunikations- und Stromanbieter nutzen schon seit Jahren gerne den Trick der Vernebelung durch Überinformation via Tarifdschungel. Die Angebote sind derart kompliziert, dass kein normaler Mensch die Zeit, Geduld oder das Verständnis aufbringen kann, um für sich den wirklich besten Tarif zu bestimmen.
  • Rankinglisten von Ärzten oder Anwälten oder Hochschulen. Mit diesen Listen wird eine Pseudoobjektivität vorgegaukelt, da es eine klare Anlehnung an sportliche Ranglisten gibt. Dort gibt es ein eindeutig höheres Maß an Objektivität, die es anderswo so nicht gibt. Außerdem werden die Gerankten zu Tricksereien eingeladen, ähnlich wie an Zielvereinbarungen gekoppelte Boni zu diversen, zerstörerischen Manipulationen führen.

Damit ist aber längst nicht das Ende des „Informationscrash“ erreicht. Es ist vielmehr nur die bewusst erzeugte Unsicherheit und Unwissenheit bei uns Endkunden. Auch Unternehmen werden durch andere Unternehmen gegen Ihren Willen ins Reich des Nichtwissens entführt. Dreisterweise sogar unter dem Siegel wertvollen Wissens. Das mittlerweile bekannteste, und glücklicherweise auch in der Öffentlichkeit diskutierte Beispiel sind Analysten und Ratingagenturen. Erstens folgen Analysten den realen Entwicklungen, anstatt sie, wie suggeriert, vorhersagen. Zweitens verhalten sie sich äußerst konform. Denn wenn ein Analyst mit seiner Arbeit aus der Reihe tanzt, ist das im Falle eines Irrtums das Todesurteil. Otte zitiert in diesem Zusammenhang Warren Buffet: „Lemminge haben zwar einen schlechten Ruf, aber niemals ist auch nur ein Lemming zur Rechenschaft gezogen worden.“ (S. 164). Drittens kommt als größtes Problem die mangelnde Unabhängigkeit hinzu. Niemand beißt in die Hand, die einen füttert. Viertens bleibt es ein Geheimnis, wie genau die Ratings zustande kommen. Das Ergebnis dieser systematischen Desinformation kennen wir aus der Krise 2007/2008. „Bis zu 60 Prozent der hochriskanten strukturierten Finanzprodukte erhielten die Topnote AAA bzw. Aaa.“ (S. 167).

„Informationscrash“ heißt aber nicht nur, dass Informationen verschleiert und fragwürdige Informationen erzeugt werden. Dieser Crash besteht auch aus der nicht minder zerstörerischen Umkehrung: Auf mindestens rechtlich fragwürdige, teils eindeutig illegale und immer ethisch zu verurteilende Weise werden Daten erhoben. Prototypisch dafür ist die ultra-tayloristische Misstrauenswelle der letzten Jahre, die durch den Shareholder-Value und Turbokapitalismus brandet, der eigentlich ein „Sozialismus für Manager“ ist (S. 271). Menschen werden, noch bevor sie überhaupt feste Mitarbeiter sind, mit Blut- und Urinproben auf Drogen hin untersucht (Spiegel-Artikel „Spuren im Blut„). Später, wenn sie dann fester Bestandteil der Belegschaft sind und man eigentlich davon ausgehen sollte, dass nur vertrauenswürdige Mitarbeiter die Hürde zur Anstellung nehmen, werden sie mit Kameras an allen möglichen und unmöglichen Orten dauerobserviert, von Privatdetektiven auch außerhalb des Arbeitsplatzes beobachtet oder scheinbar formal korrekt durchsucht und natürlich auch via Spyware am PC ausgekundschaftet.

Im Nachwort schlägt Otte „Ansätze zur Informationssouveränität“ vor. Einige Punkte möchte hier exemplarisch herausgreifen:

  • Netzwerke bilden – aber richtig
  • Vertrauen aufbauen
  • Humanistische Bildung und Geschichtswissen stärken
  • Bücher als Informationsmedium
  • Nachrichtenselektion
  • Cui bono? – wem nützt es?

Ein wenig uninformiert, nein, ziemlich uninformiert ist Ottes typische Ansicht eines Ökonomen in Sachen Vernunft, Intuition und Emotionen: „Finanzentscheidungen sollten mit dem Kopf getroffen werden – so wie man seine Stimme für eine politische Partei auch erst nach nüchterner Abwägung abgeben sollte.“ (S. 200). Da ist es wieder, das alte, längst überholte Bild vom kühlen Kalkül. Zur wissenschaftlichen Fundierung führt Otte dann ein paar Zeilen später Daniel Kahnemann und eines seiner Experimente an, dass so, wie es dargestellt ist, nichts weiter als eine topologische, also örtliche Beschreibung ist, wo unter bestimmten Bedingungen neuronale Aktivitäten zu verzeichnen sind. Das ist eben in mehrfacher Hinsicht uninformiert. Erstens ist dieses Experiment fragwürdig, wie der Neurowissenschaftler Felix Hasler in seinem hervorragender Buch →“Neuromythologie“ belegt hat. Zweitens ignoriert Otte an dieser Stelle jahrzehntelange durchgängig seriöse Forschung zur Bedeutung emotionaler und intuitiver Aspekte hinsichtlich professioneller Entscheidungen. Kurz gesagt: Ohne Emotionen gäbe es weder erfolgreiche rationale noch intuitive Entscheidungen. Das heißt auch: Es gibt gar keine reinen Kopfentscheidungen. Und last not least: Gerade im informationellen Dschungel, den Otte ja selbst entlarvt, hilft unsere Rationalität alleine gerade nicht weiter. Denn die für den Intellekt nötigen Daten sind nicht vorhanden. Genau deshalb wird unsere individuelle und kollektive Intuition immer wichtiger (→“Feel it!„).
Die Logik und Ordnung, mit der die Kapitel aufgebaut sind, hat mich immer wieder verwirrt. Themen tauchen auf und werden scheinbar abgeschlossen, um an anderer Stelle wieder weitergeführt zu werden, ohne Verweis darauf, wieso sie nun an dieser Stelle plötzlich wieder weitergedacht werden. Das hat mich nicht nur beim Lesen irritiert, sondern auch beim anschließenden Aufarbeiten für diese Buchempfehlung. Ich war am hin und her blättern und wusste manchmal nicht mehr, wo denn nun das jeweilige (Unter-)Thema hingehört.

Fazit: Max Ottes „Informationscrash“ ist trotz der benannten Schwächen (wovon ja die eine nur höchst subjektiv ist), ein wichtiges Buch sowohl für Menschen mit professionellem Interesse an dem Thema, als auch für alle Endverbraucher. Otte zeigt mit einer amüsanten Prise Humor und persönlicher Betroffenheit, wie wir in diesen beiden Rollen für dumm verkauft werden. Und was Schritte aus diesem Desaster sein können.

Herzliche Grüße
Andreas Zeuch

Otte, M. (2009): Der Informationscrash. Wie wir systematisch für dumm verkauft werden. Ullstein. Taschenbuch, 320 Seiten. 9,95€

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