Coopetition

Liebe Leserin, lieber Leser!

Ein Messer ist ein Messer ist ein Messer. Man kann damit Gemüse schneiden, eine Figur schnitzen, ein Paket öffnen. Oder jemanden umbringen. Das Instrument an sich ist wertfrei (von Schusswaffen abgesehen, deren Zweck im Allgemeinen nicht darin besteht, ein Ragout umzurühren). Daran musste ich mich nach den ersten Seiten dieses Buches erinnern, denn fast hätte ich es mittelprächtig erzürnt nicht zu Ende gelesen wieder in meinen Bücherregalen verschwinden lassen:
Die beiden Autoren bringen bereits am Anfang ein Beispiel für „Komplementäre“ (dazu gleich mehr), dass mir übel aufstieß: Intel will möglichst viele seiner Computerchips (CPUs) verkaufen. Deshalb gilt: „Wenn Softwareanwendungen nicht an die Leistungsgrenzen existierender Mikroprozessoren-Chips stoßen, muss Grove (der ehemalige CEO von Intel, AZ) etwas finden, das dies schafft. Sonst spüren seine Kunden nicht die ständige Notwendigkeit, ihre Ausrüstung auf einen höheren Stand zu bringen.“ (S. 38). Die beiden Autoren berichten dann weiter, auf welch schlauem Wege genau dies Intel gelungen ist – ohne auch nur eine Sekunde zu hinterfragen, ob wir tatsächlich alle paar Jahre wieder unbedingt neue Computer brauchen? Und vor allem: Welche unsägliche Ressourcenverschwendung das bedeutet, wohin all der giftige Elektroschrott verschwindet und unter welchen Bedingungen unsere technischen Errungenschaften produziert werden. Die Spieltheorie wurde gleich zu Beginn zu einem Werkzeug kranken Wirtschaftens. Aber irgend etwas ließ mich weiterlesen.

Vielleicht war es meine Erfahrung mit „Tit for Tat“, der erfolgreichen (spieltheoretischen) Strategie von Robert Axelrod für sich wiederholende, „iterative“ Nicht-Nullsummenspiele (ja ich weiß, klingt verschwurbelt, ist aber eben nicht dasselbe wie Win-Win Spiele mit der Absicht gemeinsam zu gewinnen. Der Fokus liegt zunächst vielmehr darauf, nicht alleine zu verlieren – womit scheinbar irrationale Bestrafungen für Übervorteilungsversuche durch konkurrierende Spieler rational werden können, obwohl dies auch die eigene Gewinnmaximierung schmälert). Vielleicht war es meine Erinnerung an die herrliche Szene in „A Beautiful Mind“ mit Russel Crowe in der Rolle von John Nash, als er in der Studentenkneipe seine Vision für das Nash-Gleichgewicht hatte. Wie auch immer. Ich habe mich diszipliniert und mir selbst damit ein Beispiel geliefert, dass es nicht immer sinnvoll ist, seiner emotional aufgeheizten Rationalität zu folgen. Mit anderen Worten: Auf seinen Bauch hören kann wertvoll sein.

Die Szene, in der Nash auf seine Gleichgewichtsidee kam
Am Anfang steht die Auflösung eines Entweder-Oder: Brandenburger und Nalebuff hinterfragen das bis heute allgegenwärtige Wirtschaftsverständnis als Krieg. Gleich auf der zweiten Seite des ersten Kapitels wird deutlich, dass diese alleinige Haltung auch ökonomisch vollkommener Unfug ist: „Das typische Ergebnis eines Preiskriegs ist ein Schlachtfeld entgangener Gewinne. … Die Fluggesellschaften haben in den Preiskriegen von 1990 bis 1993 mehr Geld verloren als sie in der gesamten Zeit seit den Gebrüdern Wright verdient hatten.“ (S. 22) Andererseits scheint es auch recht verträumt, so zu tun, als ob Geschäft alleine Frieden sei. Was aber ist Wirtschaft, wenn sie nicht ausschließlich Krieg oder Frieden ist? Die systemische Antwort (ohne das die Autoren auch nur einmal auf die Systemtheorie Bezug nehmen): „Geschäft ist … gleichzeitig Krieg und Frieden.“ (S. 23, kursiv im Original).
In diesem ambivalenten Treiben hilft die Spieltheorie, um die richtige Strategie zu finden und richtige Entscheidungen zu treffen. Und das besonders erfolgreich, wenn es viele voneinander abhängige Faktoren gibt sowie Entscheidungen zusammen getroffen werden sollen und dafür eine gemeinsame Sprache benötig wird.
Der Kern von Coopetition ist das Wertenetz, dargelegt im ersten Teil: Das Geschäftsleben als Spiel. Ein Unternehmen hat nicht nur Kunden, Konkurrenten und Lieferanten sondern vor allem auch Komplementäre: Unternehmen, die ergänzende Produkte und/oder Dienstleistungen anbieten. Formal definieren die Autoren: „Ein Spieler ist Ihr Komplementär, wenn Kunden Ihr Produkt höher bewerten, sofern sie das Produkt des anderen Spielers haben (das Kompliment), als wenn sie nur Ihr Produkt allein haben.“ (S 43) Logischerweise ist ein „Spieler … Ihr Konkurrent, wenn Kunden Ihr Produkt geringer bewerten, sofern sie das Produkt des anderen Spielers haben, als wenn sie nur Ihr Produkt allein haben.“ (ebnd.) Beispiele für Komplementäre sind Intel und Microsoft/Apple oder Universitäten und kulturelle Anbieter. Das Wertenetz sieht folgendermaßen aus (zum Vergrößern klicken):
Nun ist es aber keineswegs so, dass die Spieler immer eine klar abgegrenzte Rolle einnehmen. Realität sind vielmehr Doppel- oder sogar Mehrfachrollen. Motorola ist für AT&T nicht nur Lieferant, sondern auch Käufer, Konkurrent und Partner. Das ist das Salz in der spieltheoretischen Suppe. Wer sich diese differenzierte Wahrnehmung aneignen kann, sieht fortan neue Möglichkeiten im Spiel:
Am Place du Grand Sablon in Brüssel gibt es eine Vielzahl an Antiquitätengeschäften. Warum verteilen sie sich nicht über die ganze Stadt, um diese harte Konkurrenzsituation zu vermeiden? Weil erstens durch die enge, konkurrierende Situation für die Kunden ein viel leichter erkennbarer Markt entsteht, auf dem es bequem ist, Vergleiche anzustellen. Das lockt mehr (potentielle) Kunden auf diesen Markt, als wenn man durch die ganze Stadt fahren muss, um sich einen Überblick zu verschaffen. Zweitens wird durch die schnelle Vergleichbarkeit faire Preisbildung bei guter Qualität wahrscheinlicher. Drittens ergänzen sich die einzelnen Geschäfte mit Ihren Angeboten: Wer einen Tisch mit Stühlen sucht, in einem Laden aber nur einen Tisch und im anderen ein paar Meter weiter dazu passende Stühle findet, wird eher kaufen, als wenn er nur das eine oder andere findet und den Rest aufwändig weiter suchen muss.
Im Teil zwei folgen „die SMaRTS der Strategie“, die den größten Teil des Buches ausmachen. In fünf Kapiteln erläutern die beiden Autoren die fünf Bausteine jedes wirtschaftlichen Spiels und vor allem: wie man sie ändern kann. Jedes Spiel umfasst Spieler, Mehrwerte, Regeln, Taktiken und den Spiel-Raum. Schnell gibt’s erhellende Aha-Erlebnisse (zumindest für mich): Wie wird man zum Spieler und welche Folgen hat das für das Spiel? Wer als Lieferant ein Angebot erstellt, ändert sofort die Situation: Entweder gibt es, wenn man der erste Anbieter ist, überhaupt erst die Möglichkeit des Einkaufs. Das ist noch nicht so überraschend. Anders hingegen, wenn man als Lieferant ein Angebot abgibt, wo bereits ein oder mehrere andere Angebote vorliegen. Damit stärkt man den Käufer, weil er sofort eine Vergleichsmöglichkeit erhält und damit eine bessere Verhandlungsposition hat, als ohne Vergleich. Und genau das ist der Grund, bereits für ein Angebot eine Gegenleistung abzurufen. Denn umgekehrt gibt es acht versteckte Kosten der Angebotserstellung, die zumindest mir als Anbieter keineswegs im vollen Umfang bewusst waren.
In den folgenden vier Kapiteln arbeiten sich die Autoren durch die weiteren Spielelemente und geben neben zahlreichen, manchmal im Detail erschlagenden Fallbeispielen viele Tipps und je zum Ende jedes Kapitels eine hilfreiche Zusammenfassung. Auf diese Weise geben die Autoren Antworten auf viele Fragen: 
  • Mehrwerte: Wie können Mehrwerte geschaffen werden? Wie kann man mit Nachahmung umgehen? Wie können Kunden gebunden werden (angefangen bei kleinen Dingen, wie neun Tipps zum spieltheoretisch richtigen Danken bis hin zu komplexen Kundenbindungsprogrammen)?
  • Regeln: Welche Rolle spielen Regeln spieltheoretisch und welche Auswirkungen können bereits kleine Regeländerungen haben? Wie sieht’s mit Metaregeln aus? Welche Regeln gibt es zum Regeln erstellen? Wie können Regeln für einen selbst und auch die Kooperationspartner sinnvoll geändert werden?
  • Taktik: Warum sind Wahrnehmungen viel wichtiger als „die Realität“? Mit welchen Mitteln können Wahrnehmungen geändert werden (zum Beispiel durch umfassende und großzügige Garantien)? Wie verändern Wahrnehmungen Verhandlungen und welche Verhandlungstechniken können dem gerecht werden? Wann ist Transparenz zieldienlich, wann das Gegenteil?
  • Spiel-Raum: Gibt es tatsächlich einzelne Spiele? Oder sind diese nicht vielmehr miteinander verbunden? Wie können die rein gedanklichen Grenzen zwischen Spielen verschoben werden? Wann ist es sinnvoll, ein Spiel zu vergrößern, wann es zu verkleinern?

Fundamental ist eines zu kritisieren, was sich gleich zu Beginn zeigte: Brandenburger und Nalebuff hinterfragen nicht ein einziges Mal das bestehende Wirtschaftssystem jenseits ihrer spieltheoretischen Betrachtungen. Der Abschuss ist das Fallbeispiel von DeBeers, durch die eine künstliche Knappheit an Diamanten geschaffen wurde und wird, ohne die der Wert der Diamanten zwar nicht ins Bodenlose aber doch sinken würde. Keine Zeile über Blutdiamanten. Keine Fußnote. So geht es mit diversen anderen Beispielen weiter: Club Med wird gelobt für die Leistung, trotz schlechter Bezahlung qualifizierte Mitarbeiter für Ihre Animationsprogramme zu bekommen; Bonus-Flugmeilen werden allen Ernstes als „Geniestreich“ inthronisiert und ein Unternehmer, der sein ganzes Unternehmen mit allen Arbeitsplätzen durch seine Alleinentscheidung riskiert, wird damit als mutiger Entrepreneur dargestellt. Brandenburger und Nalebuff machen sich mit Ihrem Buch sicher nicht um eine neue, menschliche und deshalb kooperative Wirtschaft verdient. 

Den Kuchen zu Backen ist Kooperation, ihn aufzuteilen ist Konkurrenz. So verbildlichen die Autoren das Spannungsfeld zwischen Krieg und Frieden immer wieder. Das Backen Kooperation erfordert ist trivial. Spannender ist es, auch bei der Verteilung von Ressourcen im freundschaftlichen Kooperationsmodus zu bleiben. Dazu bietet die kooperative Spieltheorie (in Abgrenzung zur Spieltheorie von Nullsummenspielen mit Gewinnern und Verlierern) sogar Möglichkeiten. Leider haben die Autoren sich dafür entschieden, diesen letzten, radikalen Schritt in eine neue Wirtschaftswelt zu unterlassen. Das verwundert mich insbesondere, zumal die Autoren am Ende klarstellen, dass eigentlich alle scheinbar isolierten Spiele nur ein einziges, großes, unendliches Spiel sind. Bei dem Verständnis sollte klar sein, dass beispielsweise eine Absatzsteigerung von Produkten nur um der Gewinnmaximierung willen meistens zu großen gemeinschaftlichen Verlusten an anderer Stelle führt…
Fazit: Ein Buch für alle Entscheider, die lieber Win-Win als Nullsummenspiele betreiben. Egal, ob es dabei „nur“ um den Einkauf geht, komplementäre B2B-Partnerschaften oder gleich eine ganze Strategie, die auf dem Wertenetz aufbaut. Und ein Buch für all diejenigen, die sich selbst mit Ihrem Unternehmen zwar schon dem Gemeinwohl verpflichtet haben, aber genau wissen, dass wir voraussichtlich noch eine Weile in einer eigennutzenmaximierenden Wirtschaft und Gesellschaft leben werden. Da ist es hilfreich, dieselben spieltheoretischen Kniffe und Schachzüge zu kennen, die eventuell andere Akteure auf egozentrische Art anwenden.

Herzliche Grüße
Andreas Zeuch

Brandenburger, A.; Nalebuff, B. (2012): Coopetition. Kooperativ konkurrieren. Mit der Spieltheorie zum Geschäftserfolg. Christian Rieck Verlag. Paperback, 386 Seiten. 25,00€

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  1. […] einzige Option ist, wie die Spieltheorethiker Brandenburger und Nalebuff gezeigt haben (→ “Coopetition“). Welche Rolle spielen wir noch in einer (Wirtschafts-)Welt, in der das Ideal darin besteht, […]

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